Erfüllte Zeit

01. 11. 2005, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Die Bergpredigt: Die Rede von der wahren Gerechtigkeit“

(Matthäus 5, 1 – 12a)

von Pfarrer Christian Öhler

 

 

Der Evangelist Matthäus hat die Kernthemen der jesuanischen Verkündigung zu einer Predigt zusammengefasst. Bemerkenswert ist der Ort, nach dem er die Predigt benennt: es ist ein Berg. Keine Synagoge, nicht der Tempel und – ich ergänze aus heutiger Sicht – keine Kirche und auch keine Moschee. In geschlossenen Räumen gibt´ s immer Menschen, die drinnen sind und solche, die draußen vor bleiben, Menschen, die dazugehören und andere, die ausgeschlossen werden oder die von sich aus keinen Zugang finden. Es gibt meinen Gott, der nicht dein Gott ist. Der Berg öffnet den Adressatenkreis der Botschaft. Sie bekommt eine universale Dimension. Nationale und religiöse Grenzen werden relativiert. Der Berg vermittelt eine Erfahrung von Weite.

 

In unserer Pfarre im Süden von Linz haben wir den Kirchenraum in der Produktionshalle einer ehemaligen Textilfabrik eingerichtet. Das signalisiert schon einmal eine grundsätzliche Offenheit zur Alltagswelt der Menschen hin. Auf einem Umgang aus transparenten Wänden sind die acht Seligpreisungen zu lesen. Sie sind spiegelverkehrt angeordnet. Das heißt, es ist jeweils eine von außen und eine andere von innen gut lesbar. Ob sich jemand eher dem inneren Kern der Kirchengemeinde zugehörig fühlt oder als draußen stehend, als kirchenfern erlebt, ALLEN gelten die heilsamen Worte.

 

Nach Eugen Drewermann zerfallen die Seligpreisungen in zwei Hälften, die parallel zueinander gebaut sind: wie Ursache und Folge, wie Zustand und Handlung, wie Haltung und Verhalten. Dem haben wir Rechnung getragen, indem wir die zwei, die zusammen gehören, jeweils auf einer der vier Wände platziert haben.

Das hört sich dann sinngemäß so an: Glücklich die ihre Armut von Gott her anerkennen, nur sie sind fähig zum Erbarmen. Glücklich die Menschen, die noch weinen können, nur sie vermögen die Welt mit „reinen“ Augen zu betrachten.

Glücklich die Wehrlosen, nur sie werden dem Frieden näher kommen.

Glücklich, die sich danach sehnen, „recht“ zu leben, nur sie halten es auch aus, für die Gerechtigkeit zu leiden.

 

An der Stirnwand unserer Kirche, in der Nähe des Ambos steht eine Christusfigur. Ein „Ecce Homo“, d.h. Christus vor Pilatus: arm, wehrlos, gejagt um der Gerechtigkeit willen. Auf einer Glastafel zu seinen Füssen ist der Beginn des Evangelientextes eingelassen. Damit möchten wir sagen: Dieser Mensch, Christus selbst ist die Inkarnation der Seligpreisungen.

 

Er hat nicht bloß gepredigt, er hat seine Worte durch seine Praxis bezeugt, in seiner Achtung vor den Kleinen, den Wehrlosen, den Schwachen, den Versagern und Sündern. Wie viele Menschen haben in seiner Nähe ihre Selbstachtung wieder gefunden?! Sie durften sich sagen: Ich bin ja doch was wert trotz allem, was in meinem Leben schief gelaufen ist. Mein Leben hat ja doch eine Bedeutung, obwohl ich mir oft vorkomme wie ein vernachlässigbar winziges Rädchen im großen Räderwerk der Welt.

Wie viele Menschen fragen sich heute genau dies: Kommt es denn auf mich an, bin ich nicht im Grunde austauschbar – in der Arbeit, in der Liebe? Die Welt wird sich weiter drehen, wenn ich nicht mehr bin, so als hätte es mich nie gegeben. Nein sagt Jesus, du bist Gott wertvoll, du mit deiner einmaligen Lebensgeschichte.

 

Und er sagt noch mehr: Gott will unserer unstillbaren Durst nach Leben einmal endgültig stillen: sie werden getröstet werden; sie werden das Land erben; sie werden gesättigt werden. In immer neuen Anläufen beschreibt Jesus die Zukunft, auf die wir zugehen. Etwas hilflos nennen wir sie „das Himmelreich“.

Das für mich schönste Bild: wir werden Gott sehen. Wir werden mit ihm Gemeinschaft haben. Und in ihm miteinander, als Töchter und Söhne Gottes. Es wird eine Gemeinschaft sein, die nicht mehr bedroht ist durch den Tod, nicht mehr so entsetzlich vorläufig.

 

Wir würden diese Worte allerdings gründlich missverstehen, würden wir sie als Vertröstung nehmen. Etwa in dem Sinn: „Jetzt seid ihr zwar übel dran, aber dafür werdet ihr einmal im Jenseits getröstet und belohnt werden.“ Das wäre zu billig und eigentlich zynisch. Für jetzt, für heute gelten diese Preisungen. Jetzt schon können sie uns mitten in dieser Welt des Todes den Himmel öffnen.