Erfüllte Zeit

06. 11. 2005, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

Mit der Erfahrung des Göttlichen als Mutter verstand Jesus sich selbst als die Eröffnung der göttlich-mütterlichen Quelle: als der Brunnen (Sohn), der den Ursprung (Vater) öffnet und das Wasser (Geist) ausströmen lässt. „Der Vater, der die Quelle des Lebens ist, hat den Sohn zur Quelle des Lebens gemacht“. Folglich konnte Jesus die Menschen begeistert einladen zu der in ihm eröffneten, göttlichen Quelle: „Kommt und trinkt von mir“. Wer kann das sagen, außer eine Mutter zu ihrem Kind? Genau wie die Milch aus dem Leib der Mutter zum Lebenssaft für das Kind wird, so wird das lebendige Wasser, das der Glaubende von Christus trinkt, in ihm zu einer Springflut zum ewigen Leben. Jesus verstand sich selbst als die Verkörperung der erbarmenden und Leben spendenden mütterlichen Liebe Gottes – hervorgebracht aus dem Mutterschoß des Göttlichen.

 

Die Erfahrung der Mütterlichkeit des Göttlichen ist eine Grunderfahrung der christlichen Mystik. Eine Spiritualität, die davon genährt wird, kann heute bedeutende Auswirkung auf  die Gestaltung des Glaubenslebens haben. Unser Umgang mit anderen Menschen wird dadurch viel barmherziger, mit den anders glaubenden Menschen viel toleranter und mit der Natur viel harmonischer. Man entwickelt eine zunehmende Sensibilität dafür, an dem Leiden der anderen teilzuhaben; und daraus strömt eine heilende Kraft, die im Leben Jesu sehr spürbar war. Eine Wiederbelebung der mystischen Erfahrung der Mütterlichkeit Gottes kann auch als Kritik an der Tendenz zur Institutionalisierung der kirchlichen Ämter wie auch an der Neigung zur Dogmatisierung der Glaubensinhalte gelten. Theologie wird von der Theosophie bereichert. Die Glaubensgemeinschaft wird dadurch viel mehr Raum für die Charismen der Einzelnen lassen. Unsere Gottesdienste können wir dann mit den Ursymbolen der Natur beleben und unser Gebet durch die kontemplative Stille vertiefen. Der Leib wird als Tempel des göttlichen Geistes erfahren. Ebenso wird die Erde wahrgenommen nicht einfach als Materie, sondern geachtet als der ernährende Mutterboden unserer Lebensentfaltung.

 

 

(Aus: Sebastian Painadath „Der Geist reißt Mauern nieder. Die Erneuerung unseres Glaubens durch interreligiösen Dialog“, Kösel Verlag)