Erfüllte Zeit

13. 11. 2005, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

Sören Kierkegaard

 

Man könnte fragen: wie war es doch nur möglich, dass Christus totgeschlagen werden konnte. Er, der in Nichts, in keiner Weise sein Eigen suchte; wie ist es möglich, dass irgendeine Macht oder irgendein einzelner Mensch mit ihm kollidieren kann? Antwort: gerade deshalb ward er totgeschlagen, weil er in Nichts sein Eigen suchte. Gerade deshalb waren die Niedrigen und die Hohen gleich erbittert auf ihn; denn von denen suchte jeder seinen eigenen Vorteil und wollte, dass er in der Selbstsucht Zusammengehörigkeit mit ihnen zeigen sollte. Er ward genau deswegen gekreuzigt, weil er die Liebe war, oder weiter ausgeführt, weil er nicht selbstsüchtig sein wollte. Er lebte deshalb auch so, dass er ebenso den Hohen wie den Niedrigen zum Stein des Anstoßes werden musste, denn er wollte keiner der widerstreitenden Parteien angehören, sondern sein, was er war; die Wahrheit, und zwar aus Wahrheitsliebe. Die Mächtigen hassten ihn, weil das Volk ihn zum König machen wollte, und das Volk hasste ihn, weil er nicht ihr König werden wollte.

 

(Aus: Sören Kierkegaard „Zwei kurze ethisch-religiöse Abhandlungen“,  

 In: „Einübung im Christentum und anderes“, Deutsch von Walter Rest,  Deutscher Taschenbuch Verlag)