Erfüllte Zeit

14. 03. 2004, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

„Das Gespräch am Jakobsbrunnen“  

Joh 4,5-42

 

von Univ.Prof.Christoph Niemand

 

Das Johannesevangelium wurde von einem Menschen verfasst, der in der Begegnung mit Jesus von Nazaret eine neue Identität, ein neues Leben gefunden hat. Darin sieht er eine Qualität, die ihn sein früheres und sonstiges Leben eigentlich als Nicht-Leben empfinden lässt. Der Evangelist sieht aber, dass viele Zeitgenossen anders reagieren als er selber: Manche achselzuckend, manche feindlich. Sein Evangelium ist so etwas wie eine dramatische Zusammenballung dieser Erfahrung: Da kommt Jesus in die Welt, zu den Menschen und bietet Leben an – wie wird die Begegnung verlaufen? Er gestaltet eine ganze Fülle von Begegnungen: Manche gehen schief; führen nicht dazu, dass Menschen annehmen, was sich in Jesus zeigt. In anderen Fällen dringen Menschen aber durch alle inneren oder äußeren Widerstände vor und finden in Jesus Weg, Wahrheit, Leben. Heute hören wir eine solche positive Geschichte. Christen können an dieser – idealtypisch gestalteten – Erzählung ihre eigene Begegnung mit Jesus und seiner Zumutung nachstellen oder nachspielen.

Aber nicht nur das Johannesevangelium als Ganzes ist dramatisch. Auch die heutige Perikope kann man als „Dramolett“, als in sich stehendes kleines Drama, sehen: Eine Vorderbühne – der Platz beim Brunnen; eine Hinterbühne – das Dorf Sychar. Jesus ist die ganze Zeit auf der Vorderbühne. Die anderen Figuren pendeln sozusagen zwischen Vorder- und Hinterbühne; am Schluss versammeln sich alle vorne zum Finale mit dem effektvollen Schlussbekenntnis: Er ist der Retter der Welt! – Auch die Gestaltung der Dialoge ist dramatisch: Man kann sie als „Zwei-Ebenen-Dialoge“ oder „Missverständnis-Dialoge“ bezeichnen. Die Frau spricht vom Wasser als ständig nötigem und immer neu zu besorgendem Gut des Alltags. Das Wasser, von dem Jesus sprechen will, ist etwas anderes: Lebendiges Wasser als Ur-Symbol jenes Lebens, das jene finden, die an seiner Hand Gott begegnen. Die Hartnäckigkeit, mit der beide Seiten auf ihrer Verstehensebene verbleiben und aneinander vorbeireden, ist natürlich bewusst und ironisch konzipiert: Im Blick auf uns Leser, die wir beide Seiten verstehen: Jesu Rede, weil wir die Erfahrung seiner belebenden Gabe gemacht haben. Aber auch die Hartnäckigkeit der Frau verstehen wir: Vordergründigkeit und Selbstherrlichkeit kennen ja auch wir als Hindernisse, Jesu Zumutung anzunehmen!

Auf eine andere Sache möchte ich auch hinweisen. Was soll eigentlich diese irritierende Themenabfolge im Gespräch Jesu mit der samaritischen Frau? Zuerst geht es um Wasser. Wasser, das der durstige Jesus nicht hat, sondern erbittet. Wasser, das aber als Inbegriff des Lebens bei ihm geschenkweise zu haben sei. Dann bricht dieses Thema ab und die komplizierte Lebens- und Beziehungssituation seiner Gesprächspartnerin kommt in den Blick: Jesus erweist sich als souverän in die Tiefe des Lebens blickend. Die Frau akzeptiert ihn als Prophet. Und dann gleich wieder ein neues Thema: Dieser Prophet, wenn er schon so hellsichtig ist, soll in der alten und scheinbar unlösbaren Streitfrage zwischen Juden und Samaritanern nach dem rechten Gottesdienst eine Weisung geben.

So wie diese Themen ineinander greifen, drängt sich folgender Eindruck auf: Angebot und Zumutung Jesu werden erst dann wirklich virulent, wenn ein Mensch in seiner konkreten und nackten Wirklichkeit und Wahrheit davor steht. Notabene: Der Text qualifiziert die Frau nicht als unmoralisch oder sündig; und er verteidigt sie auch nicht, indem er ihr etwa die Rolle eines Opfers männlicher Beziehungsdiktatur zuweisen würde. Er sagt aber unmissverständlich: Wo man dem Angebot und Anspruch Jesu begegnet, geht es unausweichlich ums Eingemachte des eigenen Lebens. Wer vor der Möglichkeit eines neuen, geschenkten Lebens steht, steht auch vor der Wahrheit der eigenen, ungeschminkten Wirklichkeit. Nur wer die offen anschauen kann, kann sich auch Neues und Anderes schenken lassen. Damit öffnet sich aber das dritte Thema: Wer so bei Jesus Leben empfängt und neu leben lernt, bei dem werden alte und einbetonierte religiöse Kämpfe und Krämpfe unwichtig, gegenstandslos. Er oder sie begegnet der Heiligkeit und Unverfügbarkeit Gottes, seiner souveränen Güte. Eine Gottesverehrung in Geist und Wahrheit wird wirklich, eine Anbetung, die frei macht. – Das Evangelium unterstellt also, dass das Annehmen des Lebensangebots Jesu uns Menschen zur Wahrheit über uns selbst und zur befreiten Anbetung des unverfügbaren Gottes führt.

Eine letzte Beobachtung noch: Ganz kunstvoll webt der Evangelist einen durchgehenden roten Faden in seinen Text ein. Es geht dabei um die Frage nach der Identität Jesu. Er, der Jude – sollte er bedeutender sein als jener Jakob, der Juden wie Samaritanern identitätsstiftend ist? – Er, der Prophet, der die ungeschönte Wirklichkeit sieht und zumutet – sollte er der Gesalbte Gottes sein? Ich bin es! – lässt der Evangelist Jesus zur Frau sagen. Für ein annehmendes Glaubensbekenntnis ihrerseits ist es noch zu früh. Hals über Kopf läuft sie in ihr Dorf. Den Krug lässt sie stehen. Die Sache mit dem Tiefenblick Jesu lässt sie aber nicht los. Sie kommt zurück und bringt viele Leute mit. Glaube entsteht und eine Gemeinde, die Jesus "Retter der Welt" nennt.

Als Retter der Welt ließen sich in der Antike gern die Kaiser und Großkönige feiern, wenn sie gerade wieder einmal einen Krieg gewonnen haben. Hier formulieren Christen kritisch dazu einen anderen Anspruch: Rettung, Heil- und Gesundsein der Welt ist kaum bei den Technokraten von Macht und Machterhalt zu erwarten. Aber da ist dieser eine, eigentlich eine Karikatur der Großmächtigen. Und gerade bei ihm: Leben, Wahrheit. Gott sei Dank!

Jesus, der Retter der Welt! Wir wissen das aufgrund eigener Erfahrung und Anschauung, sagen die Samaritaner. – Aufgrund welcher Erfahrung und Anschauung nennen eigentlich heutige Christen Jesus immer noch den Weltheiland? Wir sind eingeladen, mit seinen Worten, mit seiner Zumutung und Verheißung, mit seiner ganzen Gestalt unsere Erfahrungen zu gewinnen.