Erfüllte Zeit

02. 05. 2004, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

„Ich gebe meinen Schafen ewiges Leben"
(Johannes 10, 27 - 30)
Kommentar: Prälat Johann Koller

 

Die Worte, die Sie soeben gehört haben, stammen aus der Hirtenrede Christi. Christus offenbart sich als „der gute Hirte“ und setzt sich deutlich ab von allen anderen Autoritäten oder Hirten. Er und sein Wort sind eine Provokation für alle religiösen oder geistlichen Machthaber. Er ist auch der absolute Maßstab für das kirchliche Hirtenamt. Eine brisante Rede. Nachher will man ihn erschlagen.

 

Er sagt: „Ich bin der gute Hirte für euch, bin also Hirte wie niemand anderer. Noch mehr: Ich bin Hirte, wie Gott, wie Jahwe der Hirte seines Volkes ist. Niemand darf sich also zwischen mich und die Menschen drängen. Nicht die damaligen jüdischen Autoritäten. Auch nicht kirchliche Autoritäten. Ich gebe mein Leben für die Schafe. Ich will sie nicht vereinnahmen, ihnen nichts wegnehmen, sie nicht unter Druck setzen. Ich gebe mein Leben für die Schafe. Sie sollen leben, aufleben, auferstehen. Sie sollen leben in Fülle finden und erfahren.

 

Die Worte des Evangeliums werden in den Kirchen verkündet – jetzt in der österlichen Festzeit, die bis Pfingsten dauert. Wir dürfen sie also hören im Zusammenhang mit dem Karfreitag und mit der Osternacht. Sie sind die Antwort Christi auf unser Taufbekenntnis in der Osternacht.

 

Um den Zugang zu finden, versuchen wir Christus anzuschauen. Er ist der, mit dem die Menschen machen, was sie wollen. Am Karfreitag war das so. Heute ist es nicht anders. Für viele ist er heute allerdings ein Niemand geworden. Aber das zerbricht und verbittert ihn nicht. Er hat eine Liebeskraft wie niemand anderer. Sie bleibt auch nach tausend Kreuzigungen unzerstörbar lebendig und kann uns unerwartet berühren. Das passiert oft, wie ich weiß. Wir Christen sagen: Er ist auferstanden und lebt heute. Er spricht heute und sagt Worte, die unser Innerstes berühren.

Oder anders: Es gibt kostbare Augenblicke, wo uns ein wunderbarer und grundehrlicher Mensch anspricht, uns in die Augen schaut, und Worte sagt, die tief berühren, und aufhorchen lassen. Es wird uns warm ums Herz. Von dieser Art ist Christus. Ich weiß es.

 

Meine Schafe hören auf meine Stimme. Schafe kennen die Stimme ihres Hirten genau. Sie täuschen sich nie. Wie unsere Haustiere auch. Wir Menschen haben ein gutes Gespür für eine ehrliche Liebe und für Christus. Ich sage ihnen offen: Sie haben ein gutes Gespür für das, was wirklich von Christus kommt und nicht von anderen Stimmen, Gedanken oder Meinungen. Auch in Predigten können mehr andere Stimmen, weniger die Stimme Christi durchkommen – sie werden sich dann langweilen, oder ärgern, oder abschalten. Sie spüren instinktiv, dass da etwas nicht aufleben macht. Sie hören auf meine Stimme.

 

Und sie folgen mir. Das Innerstes antwortet. Ich weiß plötzlich: das muss ich tun, das kann ich tun. Ich kann es schwer wegschieben. Ich bin angerufen worden. Ich weiß es. Sie tun dann etwas, was niemand anderer ihnen gesagt hat. Sie folgen mir. Das sind kostbare innere Vorgänge, frei von Furcht und Zwang, fern vom alltäglichen Betrieb und Geschwätz. Ich werde dadurch ich selbst, entdecke meine persönliche Identität und Berufung. Ich werde Christ. Sie folgt mir.

 

Und ich kenne sie. Das ist das Schönste. Das meint die ehelich-intime Begegnung und Erfahrung. Mit anderen Worten: Sie erleben mich. Sie wissen sich erkannt. Sie erfahren eine Liebe, die es in der Welt nirgends gibt und ein Einssein, das sie nicht begreifen können. Das passiert in vielen Christen. Ich weiß es. Die wenigsten reden darüber. Diesbezüglich hat Rahner das berühmte Wort gesagt: Der Christ der Zukunft wird Mystiker sein, das heißt, einer, der etwas erfahren hat, oder er wird nicht sein. Die Erfahrung: Ich kenne dich!

 

„Sie werden niemals zugrunde gehen. Und niemand wir sie meiner Hand entreißen.“ Dieses Wort ist in den Tagen des Caesars Domitian geschrieben worden, der die Christen vernichten wollte. Jesus ist absoluter Halt im Getriebe des Lebens, auch in schrecklichsten Stunden. „Du wirst niemals zugrunde gehen. Und niemand wir dich meiner Hand entreißen.“ Jesus gibt Halt. Sie werden es erfahren.

 

Hier erübrigt sich der Einwand vieler: Wir wollen erwachsen und mündig sein. Wir wollen nicht Schafe sein. Wir sind aber oft Schafe in der Hetzjagd des Lebens, wenn Panik ausbricht und alle rennen. Wir werden manipuliert und vereinnahmt. Wir verfallen der Propaganda. Wir verfallen Demagogen. Politische Führer haben im vergangenen Jahrhundert Millionen Menschen zu Schlachtschafen gemacht. Es gibt Situationen, wo kein Mensch und keine Gemeinschaft mehr helfen können. Es wird darauf ankommen, dass wir uns diesem guten Hirten im Taufbekenntnis in die Hand geben. Er nimmt das ganz ernst. Ich weiß es. Oft frage ich mich: Was wäre aus meinem Leben ohne Christus geworden? Er sagt: „Niemand wird dich meiner Hand entreißen. Du wirst niemals zugrunde gehen.“