Erfüllte Zeit

09. 05. 2004, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

"Ein neues Gebot: Liebt einander!"
(Johannes 13, 31 - 33a. 34 - 35)

Kommentar: Prälat Johann Koller

 

Dies war der Anfang der Abschiedsreden Jesu im Johannesevangelium. In einem ungemein herzlichen Beisammensein teilt er ihnen das Schönste, Tiefste und Persönlichste mit. Sie sind noch große Versager und begreifen nur sehr langsam. Aber sie glauben ihm und hören ihm zu. Sein Wort beginnt in ihnen zu leben.

 

Die langen Monologe der sogenannten Abschiedsreden sind keine historischen Mitschriften. Sie sind aber kostbare Dokumente einer in Jahrzehnten gewachsenen Erfahrung Christi. Anders gesagt: Der Auferstandene lebt und bleibt aktiv in den Eucharistiegemeinden. Er spricht neu zur neuen Generation um 100 n. Chr., zu Christen also, die ihn nie gesehen haben und nie sehen konnten.

 

Auch heute ist es unsere Aufgabe, das Sprechen Christi erlebbar werden zu lassen, sodass Menschen aufhorchen und aufleben. Wir haben nicht irgendwelche Gedanken zu alten Geschichten zu bringen, die niemand mehr interessieren. Wir leben heute. Christus lebt heute. Wir brauchen ihn heute.

 

Als Judas hinausgegangen war. Ein unvorstellbarer Schock. Im Abendmahlssaal ist ein Verräter. Christus wird von Freunden verraten, von religiösen Menschen vernichtet, nicht von Verbrechern oder Feinden der Religion. Auch in der Urkirche gab es Verräter. Nicht alle Getauften blieben treu. Mitchristen wurden gefährlichste Feinde. Bis heute gibt es in der Kirche Skandale, die es nie geben dürfte.

 

In dieser Situation lässt ein eigenartiges Wort tief in das Innerste Jesu blicken. Ich zitiere frei, um der Verständlichkeit willen. In den fünf hymnischen Versen ist „verherrlichen“ das zentrale Wort – das Gegenteil von kritisieren oder erniedrigen. Gott lässt uns in sein Herz schauen. Der „Sohn“ lebt im „Vater“, der „Vater“ lebt im „Sohn“. Eine unsagbare Intimität. Sie machen einander groß, sie verherrlichen einander. Dazu das Wort „jetzt“: Jetzt ist für Jesus die Stunde da, die Stunde des Verrats, der Kreuzigung, der Auferstehung. Jetzt muss und wird er alles geben, das größte tun, lieben bis zur Vollendung.

 

Genauer: Jetzt bin ich von Gott verherrlicht. In Verrat und Kreuzigung lebe ich alle Liebe, die es gibt. Vom Vater ist es mir gegeben, so zu handeln, voll und ganz sein Sohn zu sein. Und - Gott ist in mir verherrlicht. Mitten in der Hölle der Menschen und der Kreuzigung verweigere ich ihm nichts. In meinem Herzen ist nur Lieben und Verherrlichen.

 

Wenn dann Gott in mir verherrlicht ist, nichts anderes will ich, wenn also alle Liebe vollbracht ist, dann wird Gott mich in sich verherrlichen. Ich werde seine ganze Liebe in ihm erleben. Und zwar bald in der Auferstehung. Gott bleibt Gott, auch wenn man ihn tötet. Oder anders: Je größer die Verbrechen der Menschen, desto lebendiger, großartiger und erfinderischer handelt Gott. Paulus sagt: da die Sünde übergroß wurde, wurde überübergroß die Gnade. Wir sind oft fixiert auf unlösbare Probleme, starren sozusagen auf die Schlange. Wir verlangen, dass Gott dreinschlägt, böse wird, wie wir böse werden. Der Auferstandene aber ist größer als die größten Skandale und Verbrechen. Würden wir ihn wirklich kennen lernen, würde uns dies in verzweifelten Stunden aufrichten, vielleicht retten.

 

Ich bin nur noch kurze Zeit bei euch. Ihr werdet unter meiner Abwesenheit schwer leiden. Da gilt: Liebt einander, wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben. Jesus meint hier die Liebe zu den lieben Mitchristen. Diese fällt uns schwerer als die Liebe zu Feinden. Wenn ein Christ oder ein Priester versagt oder mir etwas antut - werde ich ihn dann jemals wieder lieben? Jetzt nicht überhören: Wie ich euch geliebt habe: Wer viel geliebt wird, kann mehr lieben. Wenn jemand von der Liebe des Auferstandenen berührt oder gepackt wird, erfährt er zugleich seine eigenen Abgründe. Aber die Liebe Christi ist größer. Er kann nun Mitchristen besser verstehen. Und die Fähigkeit wächst, auch unmögliche Christen zu lieben. So wird in der real existierenden Kirche sichtbar und spürbar, wie Gott ist.