Erfüllte Zeit

27. 06. 2004, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

„Die Radikalität der Nachfolge“

(Lukas 9, 51 - 62)

Kommentar: Dr. Regina Polak

 

„Dein Weg führt dich geradewegs zu einem goldenen Schloss. Dort wohnt die schöne Königstochter. Nachts, wenn alles still ist, geht sie ins Badehaus, um zu baden. Und wenn sie hineingeht, dann spring auf sie zu und gib ihr einen Kuss! Dann folgt sie dir, und du kannst sie mit dir fortführen. Nur: Dulde nicht, dass sie vorher von ihren Eltern Abschied nimmt, sonst kann es dir schlimm ergehen!" So spricht der treue Fuchs zum Königssohn, in einem Märchen der Gebrüder Grimm, dem „Goldenen Vogel“.

 

Ein junger Prinz macht sich darin auf die Suche nach dem großen Glück. Als er nun beim goldenen Schloss ankommt, ist es genauso, wie der Fuchs gesagt hat. Er wartet bis um Mitternacht, als alles in tiefem Schlaf liegt. Da kommt die schöne Jungfrau ins Badehaus - und er springt hervor und gibt ihr einen Kuss. Alles könnte gut gehen. Aber: „Ich will ja gerne mit Dir gehen, aber lass mich bitte zuvor noch Abschied von meinen Eltern nehmen!“ schluchzt die Prinzessin unter Tränen. Zunächst widersteht der Königssohn ihren Bitten, als sie aber schließlich zu seinen Füßen weint, gibt er endlich nach. Kaum aber tritt die Jungfrau zum Bett ihres Vaters, da wachen er und alle andern im Schlosse auf. Der Jüngling wird von den Soldaten des Königs ins Gefängnis gesteckt.

 

So ergeht es dem Königssohn im Märchen. Am Ende wird er seine Prinzessin dann noch bekommen, aber nur mehr mit sehr viel Arbeit und Mühe. Zum Glück verhelfen ihm aber trotz aller Anstrengung wundersame und märchenhafte Kräfte – so, als wollte das Glück auf jeden Fall zu ihm kommen.

Nur ein Märchen?

 

Jesus eröffnet und verlangt im heutigen Evangelium etwas Ähnliches wie der Fuchs: Wer ihm nachfolgen will, muss zunächst alles zurücklassen. Wer jetzt schon im Reich Gottes leben will, soll die Toten die Toten begraben lassen und die Hand an den Pflug legen, ohne zurückzuschauen.

 

Sind diese Ansprüche nicht unglaublich brutal? Pietätlose Zumutungen, die gegen jedes moralische Empfinden verstoßen! Es stimmt: Angesichts des Reiches Gottes, in das uns Jesus einlädt, werden traditionelle Ordnungsvorstellungen plötzlich relativ. Irdische Heiligtümer wie Familie und Arbeit werden sekundär. Nicht einmal die eigenen Toten begraben, eine der ältesten Kulturleistungen, die den Menschen vom Tier unterscheidet, ist da mehr vorrangig.

 

Es ist mit der Nachfolge Christi in das Reich Gottes wie im Märchen: Das größte Glück wird Dir versprochen und zugleich scheinbar Unmenschliches abverlangt. Wenn sich das Reich Gottes auftut, dann heißt es ohne Zögern hineingehen, weil man sonst das Glück verpasst und nur mehr mit Mühe wiederfindest. Und wie unser Prinz im Märchen scheuen wir vor dem Glück zurück und tun, was uns schadet. Glaubst Du, dass Du auf Deiner Glückssuche trotzdem wie im Märchen von guten Mächten begleitet bist?

 

Das größte Glück für den Menschen ist – so das Evangelium - die Nähe und Liebe Gottes. Sie wird dem erfahrbar, der Jesus nachfolgt. „Lass die Toten die Toten begraben“ ist von daher nicht moralisierend zu verstehen, als wären plötzlich Humanität, Familie oder Arbeit nichts mehr wert. Hier wird eine spirituelle Erfahrung beschrieben. All irdischen Werte behalten selbstverständlich ihre Bedeutung und gottlos wäre, wer sie nicht pflegt. Aber im Licht des nahenden Gottes sind sie trotzdem immer nur zweitrangig. Das gilt auch für das, was uns heute wichtig ist: „Wenn Du mir nachfolgen willst, dann lass Deine Lebens- und Karriereplanung sausen und vergiss Deine Vorsorgesparbücher! Hör auf, Deine ganze Energie in Deinen Beruf zu stecken!“ So ähnlich würde Jesus vielleicht heute zu uns sprechen.

 

Wenn Gott selbst zu uns kommen will, verändern sich alle Werte. Irdisches bekommt seinen Platz in Gott, es wird von Gott geheiligt und beschützt. Der Lebenshorizont wird weiter – und das Glück hängt nicht mehr nur an Gesundheit, Familie, Beruf. Wer Jesus nachfolgen will, muss also nicht die Toten die Toten begraben lassen, er wird es freiwillig tun. Er wird auch nicht mehr zurückschauen wollen, wenn er die Hand an den Pflug legt. Nicht weil er vor der Vergangenheit oder der Welt flieht, sondern weil das, was da auf ihn zukommt, nachhaltig glücklich macht. Das helle Licht der Zukunft mit Gott wird den Schmerz darüber, dass den Werten der Welt nur der zweite Platz eingeräumt wird, nur lindern, nicht verhindern können. Aber wer bereit ist, Gott den ersten Platz einzuräumen, kann getrost auf ein anderes Wort Jesu hoffen: „Suche zuerst nach dem Reich Gottes. Und alles andere wird Dir dazu geschenkt!“