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Erfüllte Zeit11. 07. 2004, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1
„Das
Gleichnis vom barmherzigen Samariter“ (Lukas 10, 25 - 37) Kommentar: Dr. Christiane Koch
Interessant
am Gleichnis vom barmherzigen Samariter wie Jesus es erzählt ist
u.a., dass man das Geschehen aus zwei Perspektiven betrachten kann.
Schon die Ausgangsfrage für das Gleichnis: „Wer ist mein Nächster?“,
lässt bei genauem Hinhören zwei Lesarten zu: Sie kann verstanden
werden im Sinne von: Wer ist der, dem ich mich zuwenden, den ich
lieben bzw. an dem ich barmherzig handeln soll. „Wer ist mein Nächster?“
kann aber auch heißen: Wer ist der, der auf mich zukommt, der an
mir Liebe und Barmherzigkeit erweist. Die
zuerst genannte Sichtweise ist, wie ich vermute, die Geläufigere.
Es ist die Sichtweise derer, die auf dem Weg von Jerusalem nach
Jericho an dem Verletzten vorbeikommen. Der Priester, der Levit und
der Samariter – sie sehen den Mann am Boden liegen und es stellt
sich ihnen die Frage, was hier zu tun ist bzw. ob sie das Ganze
etwas angeht. Der Priester und der Levit gehen weiter – was in
ihnen in diesem Augenblick vorgeht, lässt sich nur vermuten. Der
Samariter jedenfalls wägt nicht ab und denkt nicht lange nach –
er weiß intuitiv: das ist mein Platz; hier bin ich gefragt. Und in
dieser inneren Sicherheit ist er ganz Herr der Lage. Die
andere Perspektive ist die, die sozusagen von unten nach oben
schaut; die Sichtweise dessen, der am Boden liegt. „Welcher von
diesen dreien wurde der Nächste dem, der unter die Räuber fiel?“
fragt Jesus den Gesetzeslehrer, mit dem er im Gespräch ist.
Erwartet sich der Geschlagene überhaupt noch Hilfe? Traut er,
nachdem schon zwei vorbeigegangen sind, einem Dritten noch zu, ihm
zum Nächsten zu werden? Der
ungarische Schriftsteller Imre Kertesz erzählt einmal, was er als
Gefangener des Konzentrationslagers Auschwitz im Zuge eines
Krankentransportes erlebt. Auf einer Holzbahre liegend sollte er mit
einer Gruppe von Mithäftlingen in einen der Viehwaggons verladen
werden. Keiner wusste wie lange die Fahrt dauern würde und für
jeden gab es nur eine einzige kalte Verpflegungsration, die für
mehrere Tage einzuteilen war. Inmitten des Durcheinanders dieser
Aufbruchsszene, dem er hilflos ausgeliefert war, geriet seine Ration
irgendwie in die Hände jenes Mithäftlings, den sie damals den
„Herrn Lehrer“ nannten. Kertesz erinnert sich genau, was ihm in
diesen Sekunden durch den Kopf ging: Ohne seine Ration – so klärte
er mit sich ab – ist die Chance am Leben zu bleiben für ihn überaus
fraglich geworden; andererseits, wurden die Überlebenschancen des
Herrn Lehrer durch seine Ration genau verdoppelt. „Damit hat
sich’s“, dachte er sich. Doch wenige Minuten später sieht er
den Herrn Lehrer auf sich zukommen, in seiner Hand hält er die
kalte Verpflegungsration, die er ihm rasch auf den Bauch legt. Seine
Überraschung ist groß und steht ihm wohl unverhüllt ins Gesicht
geschrieben, denn der Herr Lehrer sagt entrüstet zu ihm: „Was
hast du denn gedacht …?“ „Wer
wurde der Nächste dem, der unter die Räuber fiel?“ Wenn
man das bekannte Gleichnis vom barmherzigen Samariter einmal anders
herum liest und sich auf die Sichtweise dessen einlässt, der am
Boden liegt und allein nicht mehr weiter kommt, könnte man den
Samariter da nicht ähnlich fragen hören: „Was hast du denn
gedacht …“ Im
Blick auf das Hier und Heute möchte ich noch zwei Gedankensplitter
anschließen: Es
kann doch sein, dass einmal jemand mir zum Nächsten wird, von dem
ich das niemals erwarten würde. Schade ist es, wenn Gelegenheiten
verpasst werden, weil eine helfende Hand nicht als solche erkannt
wird. Und:
Ist es nicht so, dass sich manchmal in schwierigen Situationen ganz
unvermutet Wege auftun und sich Knoten auf überraschende Art plötzlich
wie von selbst lösen? – Wenn dann irgendwoher die Frage
auftaucht: „Was hast du denn gedacht…“, ist man nicht schlecht
beraten, sich auch bei dem zu bedanken, von dem es heißt, dass sein
Segen unaufhörlich ist bis ans Ende der Welt und bis an die Grenzen
des Himmels.
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