Erfüllte Zeit

24. 10. 2004, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

„Das Gleichnis von Zöllner und Pharisäer im Tempel“ - Die Versuchung der Guten (Lukas 18, 9 – 14)

von Univ. Prof. Dr. Wolfgang Langer


Wer gilt etwas in unserer Gesellschaft? Die Antwort scheint klar zu sein: Wer etwas ist, wer etwas hat und wer etwas leistet. Ganz oben sind die Mächtigen und die Besitzenden: der Generaldirektor, der erfolgreiche Unternehmer, die Ministerin, das Model auf allen covers. Die Reichen und die Schönen eben – bewundert und beneidet. Sie finden überall Beachtung.

Daneben gibt es aber noch eine ganz andere Art von Menschen, denen nicht nur Beachtung, sondern die Achtung der anderen gelten sollte. Es sind die, die sich ohne viel Aufhebens, meist im Stillen für die einsetzen, die in der „großen Gesellschaft“ keinen Rang und kein besonderes Ansehen haben: Kranke und Behinderte, Alte und Hilflose, Verarmte und Gestrandete. Von solchen ist nur selten die Rede, und der Menge sind sie meist unbekannt.

Auch sie leisten etwas, genau genommen sogar das, was unsere Gesellschaft am nötigsten hat. Es zahlt sich für sie nicht aus – nicht in privatem Gewinn und Geldwert. Im Gegenteil: sie stellen oft ihre eigenen Bedürfnisse zurück, um für die anderen da zu sein. „Ich faste zwei Mal in der Woche und gebe den zehnten Teil von allem, was ich einnehme.“ Dieser Pharisäer ist wirklich ein Gerechter: Er bereichert sich nicht auf Kosten anderer und hintergeht niemanden. Er ist ein wirklich Frommer, der nach Gottes Willen leben will.

Was macht er falsch? Er „stellt sich hin“ vor seinem Gott und lobt sich selbst. Er redet nur von sich. Und wenn er auf „die anderen“ schaut, dann nur um sie zu „verachten“. Er vergleicht sich mit ihnen, um festzustellen, dass er nicht allein der Bessere, sondern überhaupt der einzig Gute ist.

Auch wenn alles, was er von sich behauptet, wahr ist – er vergisst das Wichtigste, das alles Entscheidende: Was wir sind und haben und tun können, verdanken wir der Güte Gottes. Moment! Er dankt doch: „Gott, ich danke dir, dass ich nicht bin wie die anderen Menschen, die Räuber, Betrüger, Ehebrecher“... Ein zynisches Gebet, das nur seinem Selbstruhm dient. Seine Gerechtigkeit verkommt zur Selbstgerechtigkeit.

Der Zöllner dagegen ist ein Sünder. Er weiß es, und er spricht es aus. Er verstößt gegen das Gesetz und beutet seine Landsleute aus, im Dienst der römischen Besatzer. Er kann Gott gegenüber keine Ansprüche stellen, denn er hat keine Leistungen, keine „guten Werke“ vorzuweisen. So kann er sich nur in aller Demut Gott anheimgeben und – wird von ihm für gerecht erklärt, indem ihm seine Schuld vergeben wird.

Die Versuchung der Guten besteht darin zu wissen, dass sie gut sind. Das kann die besten Absichten und die ehrlichsten Anstrengungen vergiften. Wir müssen uns nicht schlechter machen als wir sind. Aber es macht uns menschlicher, wenn wir unsere Schwächen und Fehler nicht verleugnen, sondern – auch in unserem Herzen – eingestehen. Da ist nämlich einer, der ist „größer als unser Herz“ (1Joh 3, 20).