Erfüllte Zeit

14. 11. 2004, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

„Von den Wehen der Endzeit“

(Lukas 21, 5 bis 19)

von Veronika Prüller-Jagenteufel

 

Keine heimelige Botschaft ist das, die uns da von Jesus übermittelt wird. Und so realistisch: Zerstörung von Lebensraum; Verführung durch falsche Propheten; Kriege; Naturkatastrophen; und im Gefolge beider Seuchen und Hungernöte – das zieht sich quer durch die Geschichte. Und auch das Verfolgen, Quälen und Töten solcher, die inmitten unheiler und sündiger Zustände an die Verpflichtungen der Menschenwürde und Humanität erinnern, gehört zur üblichen Ausstattung historischer Abläufe.

 

In Österreich leben wir seit Jahrzehnten in Frieden und Wohlstand. Aber wer sich den täglichen Nachrichten nicht verschließt, weiß, dass unsere Welt leider auch heute an viel zu vielen Orten so aussieht, wie sie der Abschnitt aus dem Lukasevangelium schildert. Das neue Testament ist wie die Bibel insgesamt kein naives Buch. Sie täuscht sich nicht über die Abgründe in den Menschen hinweg und weiß um das Grauenvolle, das Menschen fähig sind einander anzutun.

 

Für die Gemeinde, für die Lukas das Evangelium aufschreibt, war vieles aus dieser so genannten Endzeitrede bereits reale Erfahrung: Zwist innerhalb des jüdischen Volkes, zu dem sie gehörten; Unterdrückung durch die Römer; bis hin zur Zerstörung Jerusalems im Jahr 71. Diesen schlimmen Erfahrungen gewinnt Lukas im Licht der Botschaft Jesu eine Perspektive der Hoffnung ab: Ein zentraler Satz dafür steht am Ende des heutigen Abschnitts: Wenn ihr standhaft bleibt, werdet ihr das Leben gewinnen. Ein anderer steht ein paar Verse später: Wenn das alles beginnt, dann richtet euch auf und erhebt eure Häupter, denn eure Erlösung ist nahe.

Diese Perspektive der Hoffnung gilt auch heute und auch für solche, die nicht unmittelbar von Krieg und Tyrannei bedroht sind. Es ist eine Perspektive der Hoffnung für diese Welt, wie sie – auch – ist: voller Gewalt und Bedrohung. Demnach erwächst die Hoffnung aus der Standhaftigkeit. Mit „standhaft“ wird in unserer Übersetzung ein griechisches Wort wiedergegeben, das auch die Bedeutung von Ausharren, Aushalten hat, wörtlich etwa „darunter bleiben“ meint. Viele, die in unmittelbarer Not sind, haben da keine Wahl: Sie können gar nicht anders, als da zu bleiben in ihrer Situation: Sie auszuhalten ist das einzige, was ihnen übrig bleibt. Selbst das noch als aktives Tun zu begreifen und nicht als bloßes Ausgeliefert-sein kann als letzte Möglichkeit erscheinen, die eigene Würde aufrecht zu erhalten.

 

Für alle, die nicht direkt existenziell bedroht sind, heißt dieses Aushalten und „darunter bleiben“ vielleicht: Bleibt wach; verschließt eure Augen nicht und nicht eure Herzen! Erhebt eure Häupter, heißt es im Evangelium und nicht: Augen zu und durch.

 

Ich empfinde es mitunter als ganz schön schwierig, dieser Welt, wie sie sich in Nachrichten und Fernsehbildern – aber auch z.B. in Nachbarschaftsstreitigkeiten und alltäglicher Menschenfeindlichkeit – zeigt, offen und wach zu begegnen und sie auszuhalten. Ich verstehe ganz gut, dass viele sich ihr lieber entziehen: in die glitzernde Funwelt der Events, in das kleine häusliche Glück, in das Schauen auf das eigene Fortkommen, in den begrenzten Horizont des eigenen Tellerrands.

 

Manchmal ist es ja auch notwendig, sich zurückzuziehen. Alle, die sich in Sozialarbeit oder Politik, in Hilfsorganisationen oder in konkreter Nachbarschaftshilfe engagieren, brauchen auch Zeiten der Erholung, Zeiten, in denen sie nicht das Elend der Welt vor Augen haben, sondern die Freude und die Fülle, die auch da sind. Jedenfalls ist es eine ziemliche Herausforderung, sich erhobenen Hauptes aktiv der Verantwortung zu stellen und hoffnungsvoll engagiert zu bleiben. Was tun, wenn diese Welt voller Gewalt, keinen Anlass zur Hoffnung zu geben scheint, wenn es schwer wird, im Einsatz für die Menschenwürde auszuharren?

 

Von Dorothy Day, einer Amerikanerin, die sich als Katholikin über Jahrzehnte in den USA für Frieden und Gerechtigkeit, für die Arbeiterbewegung, für Migrantinnen, gegen ausbeuterische Politik eingesetzt, Organisationen gegründet und geleitet hat, auf Demonstrationen ging und mehrmals, auch noch als alte Frau, deswegen verhaftet wurde – von Dorothy Day, dieser standhaften Paradeaktivistin, wird erzählt, dass auch sie sich immer wieder einmal aus diesem einsatzfreudigen Leben zurückgezogen hat in Zeiten der Einsamkeit und dass sie in diesen Zeiten einfach sehr viel geweint hat über diese Welt.

 

Mich berührt dieses Weinen einer der großen christlichen Aktivistinnen. Vielleicht ist das Weinen-Können über die Welt ein guter Weg, um diese Welt auszuhalten, um „darunter zu bleiben“, auszuharren, standhaft zu sein – um uns der Welt und unserer Verantwortung für die Welt nicht zu entziehen. Tränen waschen das Herz. Und sie können ein Gebet sein in der uralten Form der Klage, in der schon zu biblischen Zeiten Menschen das Unrecht und ihre Verzweiflung darüber vor Gott gebracht haben. Wer über die Welt weint, statt an ihr zu verzweifeln, bleibt in der Liebe zur Welt, teilt Gottes Liebe zu dieser Welt und vielleicht ja auch Gottes Tränen über diese Welt. Mag sein, Gott selbst erhebt uns dann das Haupt, und mag sein, unsere Augen und unsere Herzen werden dabei so klar, dass wir neben den Untaten der Gewalt auch die Taten der Hoffnung und des Wohlwollens sehen, zu denen wir Menschen ebenfalls im Übermaß fähig sind – und mag sein, wir wissen dann wieder, dass unsere Erlösung nicht fern ist.