Erfüllte Zeit

08. 12. 2004, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

„Die Verheißung der Geburt Jesu“
(Lukas 1, 26 – 38)

Kommentar: Regens Josef Suntinger

 

Eine Frau, die aus der Kirche ausgetreten war, sagte: Mit ein Grund dafür sei gewesen, dass in der Kirche immer nur von der Sünde die Rede sei. Kommt man zu einem Gottesdienst, wird einem im Bußakt zunächst einmal gesagt, was für ein schlechter Mensch man sei. Nicht selten seien das einfach Unterstellungen, die sie sich nicht mehr gefallen lasse. Seither beobachte ich in unseren Gottesdiensten, dass sie häufig tatsächlich Recht hat: Zuerst wird gesagt, was für ein sündiger Mensch man ist, um freilich dann auch schnell das Heilmittel zu präsentieren: den barmherzigen Gott, der uns unsere Sünden wieder vergibt. Besonders betroffen gemacht haben mich Schuleröffnungsgottesdienste, die mit einem ausführlichen Bußakt begonnen haben.

 

Da stimmt etwas in der Reihenfolge nicht: Die Erfahrung der Liebe Gottes geht unserem etwaigen Versagen voraus. Sie ist die Voraussetzung dafür, dass wir Schuld überhaupt erkennen, geschweige denn die Verantwortung dafür übernehmen können. Das ist auch in unseren Beziehungen so und ist mir bewusst geworden, als ich in meiner Zeit im Priesterseminar eine Zeit lang über beide Ohren verliebt war. Die Frau, die auch mich liebte, machte mich auf einen nicht unerheblichen Charakterfehler aufmerksam. Das hätte ich von jemand anders nicht ertragen. Bei ihr spürte ich: Sie will mich nicht „aufblättern“, sondern ihr geht es um mich. Es tut ihrer Liebe zu mir keinen Abbruch, sondern kommt gerade aus dieser Liebe.

 

Die Erfahrung der Liebe Gottes geht allem voraus. Auch jeder Gottesdienst muss deshalb damit beginnen, dass wir Ausschau halten nach Gott und Seiner Herrlichkeit, die in Seiner bedingungslosen Liebe zu uns besteht, mit der Er uns bejaht und annimmt und segnet. Das Psalmwort aus dem sonntäglichen Morgengebet der Kirche könnte der Eröffnungsgesang eines jeden Gottesdienstes sein: „Gott du mein Gott dich suche ich, nach dir halt ich Ausschau im Heiligtum, um deine Macht und Herrlichkeit zu sehen“.

 

Obwohl das heutige Fest die Sünde in seinem Titel enthält: „Hochfest der ohne Erbsünde empfangenen Jungfrau und Gottesmutter Maria“, spricht das Evangelium mit keinem Wort von der Sünde. Es stellt uns das Große vor Augen, das Gott an Maria und an allen Menschen tut. Es stellt die Freude in den Mittelpunkt, die Gott uns damit bereitet, dass er uns Seinen Sohn schenkt, ohne Vorleistungen und ohne Vorbedingungen, einfach aus Seiner grenzenlosen Liebe zu uns. Zu Maria sagt der Engel: Freue dich, du von Gott Begnadete, der Herr ist mit dir. D.h.: Freue dich Maria, denn Gott selber nimmt sich deiner an. Er Selbst hat dich zu einem liebenswerten und von Grund auf geliebten Menschen gemacht. Eine Erfahrung, die Grundbedingung für ein freies, erfülltes Leben ist. Maria erfährt die Liebe Gottes von allem Anfang ihres Daseins sosehr, dass kein Schatten der Sünde über ihr Leben fällt. Diese Liebe Gottes hat Maria natürlich in besonderer Weise durch ihre Eltern, Joachim und Anna, erfahren.

 

Liebe verpflichtet aber auch. Nicht in dem Sinn, dass sie zu etwas zwingt, sondern dass sie aus Dankbarkeit und Freude Antwort geben will. Die Liebe Gottes rüstet Maria zu dem großen Auftrag, den Er für sie bereithält: Die Mutter Seines Sohnes zu werden. „Der Herr ist mir dir“ sagt der Engel zu Maria. So sind schon andere hervorragende biblische Persönlichkeiten angesprochen worden, die Gott für etwas Großes ausersehen hat. Auch Maria soll, und in besonderer Weise, am großen Plan Gottes mit der Welt mitwirken. Es wird ihr dabei viel abverlangt werden. Ihr Dienst wird aber ihrem Leben auch seine Größe und eigentliche Bedeutung verleihen.

 

Das Evangelium sagt mir: Jeder von uns ist wie Maria von Gott erwählt, bejaht, angenommen und geliebt. Mir persönlich ist eine solche Erfahrung zu Pfingsten 2003 in der Kirche des Hl. Franz in Assisi geschenkt worden. Nach der Kommunion saß ich in der übervollen Kirche auf dem Sockel einer Säule. Völlig unerwartet überwältigte mich das Gefühl, von Gott so radikal angenommen zu sein, dass ich mir dachte, so kann mir nichts mehr geschehen, selbst mein Versagen in Vergangenheit und Zukunft wird da bedeutungslos. Solche Erfahrungen lassen uns leben! Sie erfüllen uns mit einer Freude, die auch Schmerz, Enttäuschung, Lieblosigkeiten und Verletzungen umgreift. Was mir bleibt ist, dankbar und froh mit meinem Leben zu antworten auf das Große, das Gott an mir getan hat und immer tut.