Erfüllte Zeit

16. 01. 2005, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

Johannes 1, 29 – 34

von Dr. Helga Kohler-Spiegel

 

Das Johannesevangelium wird als Drama verstanden – bei einem Drama wird der Leser, die Leserin in die Lage versetzt, selbst Zeuge der Auseinandersetzung und der Entwicklung zu sein. Der Leser ist an den Gesprächen und Situationen beteiligt, die Worte gelten den Leserinnen und Lesern zu jeder Zeit. Wie bei einem guten Krimi, bei dem wir als Zuschauende schon wissen, dass hinter der Tür der Mörder lauert, die Hauptfigur in der Geschichte weiß davon aber noch nichts und geht ahnungslos auf diese Türe zu... Kennzeichen eines Dramas ist, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer häufig mehr verstehen und durchschauen als die Figuren auf der Ebene der Darstellung, die Zuschauenden sollen ja etwas lernen. Deshalb bleibt die Frage: Verstehen wir heute mehr als die Jüngerinnen und Jünger damals?

 

Also – was können wir im heutigen Evangelium lernen, was sollen wir lernen?

 

Das heutige Evangelium ist sehr knapp: Johannes ist gesandt, Jesus vor der Welt bekannt zu machen. Der Mensch Jesus ist der „präexistente“ Sohn Gottes, der vor der Zeit war und über die Zeit hinaus ist. Er ist das Lamm Gottes, das die Sünden der Welt hinweg nimmt. Und auf ihm bleibt der Geist Gottes.

 

Das sind schwierige Bilder. Ich kann Sie beruhigen, auch die Jünger Jesu brauchten Zeit zum Verstehen, erst nach der Auferstehung haben sie fassen können, was sie erlebt haben. Am schönsten formuliert dann Thomas, der sich nicht mit Worten zufrieden gibt, sondern dem Auferstandenen „in seinen Wunden bohren will“, seine verletzbarsten Stellen berühren will. Erst dann kann Thomas sagen: „Mein Herr und mein Gott“. Wir Leserinnen und Leser kennen die Geschichte Jesu ja, die sog. Story, wir stehen also an der Stelle des Thomas. Wir wissen vieles, aber es ist dennoch schwer „zu glauben“. So werden wir im Johannesevangelium ständig neu in das Drama hinein genommen – damit wir lernen….

 

Jesus ist Mensch. Im Text ist das völlig selbstverständlich, wir vergessen es manchmal. Jesus hat Familie, Eltern und Geschwister, er ist sterblich, er ist traurig und ermüdet nach einer anstrengenden Wanderung. Pilatus lässt ihn foltern, um dann wie amtlich bestätigen zu lassen: „Seht, ein Mensch!“ (19, 5) Und zugleich ist er „die Erscheinung Gottes auf Erden“, wie Ludger Schenke in seinem Johanneskommentar (Patmos, 405ff) sagt. In diesem Menschen, wie er lebt, redet und handelt, wird sichtbar, wie Gott selbst ist.

 

Das jüdische Modell des Gesandten ist geprägt von der Vorstellung, dass der Gesandte und der Sendende eins sind, der Gesandte ist wie der Sendende selbst, er repräsentiert „vor Ort“. Sein Wort, seine Taten – alles hat dieselbe Gültigkeit, er handelt anstelle des Sendenden. Mit der Formulierung „Sohn Gottes“ wird das ganz deutlich: Der Mensch Jesus, der Gefühle hat und Taten setzt, der Angst hat und seinen Weg geht, dieser ist der Gesandte, in ihm ist also ein anderer präsent und hat Gefühle und setzt Taten…: Gott selbst. Das ist uns fremd zu denken, behaupte ich – bis heute. Im Gesandten ist der Sendende präsent, „in dem Menschen Jesus, der redet, lehrt und wirkt, ist zugleich ein anderer präsent und redet, lehrt und wirkt: Gott!“ (Schenke 407)

 

Das Johannesevangelium spricht auch von „Präexistenz“. Denn in der jüdischen Theologie existieren wichtige Dinge schon vor der Erschaffung der Welt bei Gott, die sich beizeiten zeigen werden: Paradies, die Tora, die Weisheit, der Name des Messias u.a. Dies könnte auch als Versuch verstanden werden, bereits in früher Zeit einen schwer fassbaren Gedanken zu fassen: Wir denken in den Kategorien von Raum und Zeit, also immer in „oben und unten“, „vorher und nachher“, Gott selbst aber steht außerhalb dieser Kategorien. Gott, der Ewige, Anfang und Ende, Alpha und Omega… - all diese Bilder wollen ja ausdrücken, dass Gott die Kategorien von Raum und Zeit sprengt. Das aber ist schwierig zu denken: Wie kann ich in den Kategorien von Raum und Zeit die Aufhebung dieser Kategieren denken? Beim heutigen Text aus dem Johannesevangelium heißt es „einfach“: „Nach mir kommt ein Mann, der mir voraus ist, weil er vor mir war.“

 

Jesus wird als Lamm Gottes bezeichnet, das die Schuld der Welt hinweg nimmt, den Kreislauf von Leiden und andere Leidenmachen durchbricht. Das bezeichnet genau den Sinn dieser Aussagen – in der damaligen Sprache. Denn das Bild ist verbunden mit dem leidenden Gottesknecht aus den Überlieferungen des zweiten Jesaja (v.a. das vierte und letzte Gottesknechtlied klingt an; Jes 52, 13-53, 12). In der frühen Kirche wurden diese beiden Bilder gleichgesetzt, denn das aramäische Wort „taliah“ bedeutet sowohl Knabe/Knecht als auch Lamm. So ist der Knecht Gottes zugleich das Lamm Gottes.[1]

 

Der Text ist eine Ouvertüre, all die Themen kommen im Evangelium ausführlich vor. Sehen und in Verbindung mit Gott bleiben und bezeugen… das ist durch das ganze Evangelium wichtig. Vielleicht fragen Sie sich auch schon: Und – was habe ich davon? Wieso das alles, diese für uns schwierige Sprache, diese Bilder…? Alle Aussagen zielen auf die Erfahrung: Durch den Menschen Jesu wird Gott erfahrbar: Gott erhält ein Gesicht und einen Namen.

 

Für uns standen die vergangenen Wochen unter dem Schock, im Seebeben erleben zu müssen, wie zerstörerisch diese gewaltige Kraft ist, die im Inneren unserer Erde lebt und die Erde weiterhin bewegt und verändert. Das heutige Evangelium erinnert daran, dass Gott nicht als der große Macher gedacht werden kann, sondern dass „Gott“ mitten unter uns ist, dass „Gott“ menschliche Gesichter trägt: Rettungskräfte und Ärztinnen und Ärzte, namenlose Menschen, die das wenige, das sie selbst hatten und haben, mit anderen teilen, und und und. „Gott“ hat vielleicht das Gesicht derer, die beim Abladen von Hilfsgütern anderen verteilen und nicht möglichst viel für die eigene Familie beiseite schaffen, „Gott“ hat das Gesicht derer, die sich um Kinder kümmern, deren Namen sie nicht kennen… „Gott“ hat, so bezeugt Johannes der Täufer, ein menschliches Gesicht. Ich möchte Sie ermutigen, das eigene Gesicht wieder ‚mal unter diesem Aspekt im Spiegel zu betrachten. Und am Montagmorgen (und zu allen anderen Zeiten auch), in der Straßenbahn oder am Arbeitsplatz oder in der Familie – sich daran zu erinnern, wenn Sie anderen Menschen ins Gesicht sehen – „Gott hat das Gesicht eines Menschen“.

 

 

 

 

Helga Kohler-Spiegel, Dr. theol., Leiterin des Amtes für Religionspädagogik St. Gallen und Professorin für Religionspädagogik in Feldkirch/Österreich.



[1] Die Gottesknecht-Überlieferung beim Zweiten Jesaja nimmt das Sündenbockmotiv auf. Im Jüdischen wurde stellvertretend für die Schuld der Menschen am großen Versöhnungstag (Jom Kipur) ein Sündenbock in die Wüste geschickt, dem die Schuld der Menschen symbolisch aufgeladen wurde. „Schuld“ meint hier die grundsätzliche Fähigkeit des Menschen zum Bösen, zum Negativen. So verstanden zeigt das „Lamm“, der Knecht Gottes einen Weg, durch das Annehmen und Aushalten und Durchtragen des Leidens eben das Leiden nicht weiterzugeben, sondern auszusteigen aus dem Kreislauf des Leidens und des Bösen. (Vgl. Marie-Louise Gubler, Das Lamm Gottes, in: Schweizer Kirchenzeitung Nr. 52/53 (2004), 981)