Erfüllte Zeit

30. 01. 2005, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

„Die Bergpredigt – eine christliche Lebensordnung?“

(Mt 5, 1 - 12a)

von Univ. Prof. Dr. Wolfgang Langer


Das Gesetz Jesu hat man sie genannt, auf dem Berg verkündet – wie Mose die tora empfangen haben soll. Oder die „Magna Charta“ der Christen: die Weisung schlechthin für ein christliches Leben. Die Rede ist von der sogenannten „Bergpredigt“, deren Anfang wir gerade gehört haben.

In der ursprünglichen Form der „Seligpreisungen“, wie sie noch im Lukasevangelium erkennbar ist, werden die Armen, die Hungernden, die Weinenden und die um ihres Glaubens willen Verfolgten beglückwünscht. Ihnen wird nämlich eine Zukunft verheißen, in der die Armen das Reich Gottes besitzen, die Hungernden satt werden, die jetzt Weinenden lachen und die Verfolgten „im Himmel“ belohnt werden. Matthäus hat die überlieferten Sätze erweitert und umgeformt und daraus so etwas wie eine christliche Lebensordnung für seine Gemeinde(n) gemacht.

Demnach sollen Christen solidarisch sein mit den Armen und sich für eine gerechtere Verteilung der Güter des Lebens einsetzen. Sie sollen Unglücklichen beistehen, im Umgang miteinander auf jede Art von Gewalt und Herrschaft verzichten und mitfühlend zu Vergebung und Versöhnung bereit sein. Ihr Reden und Handeln soll ganz mit ihrer inneren Gesinnung übereinstimmen. Sie sollen unter allen Umständen Frieden halten oder herbeiführen. Sie sollen ihrer Überzeugung treu bleiben, auch wenn sie dafür Leiden und Verfolgung auf sich nehmen müssen.

Ein ideales Menschenbild! Eine Gesellschaft, deren Bürger so handeln, wäre das Paradies auf Erden oder nicht? Aber wer kann schon so leben, jederzeit und überall? Es ist das genaue Gegenbild zur real existierenden Welt. Wer ernsthaft versuchen wollte, sich in jedem Fall strikt daran zu halten, würde sehr bald erfahren, dass er hoffnungslos überfordert ist. Und die Bergpredigt taugt auch nicht als Gesetz, nach dem ein Gemeinwesen funktionieren könnte. Es würde im Chaos versinken. Wo alle und jeder Einzelne auf die Durchsetzung eigener Rechte verzichten würden, auf die Verurteilung von Straftaten, auf die wehrhafte Verteidigung gegen ungerechte Angriffe usw., wären sie allen Täuschungen von Betrügern, allen Übergriffen Krimineller schutzlos ausgeliefert.

Wen verpflichtet die Bergpredigt? Niemanden? Ein paar weltfremde Schwärmer, die an ihrer Umsetzung in die Wirklichkeit scheitern? Radikale Christen, die sich hinter Klostermauern zurückziehen? Seit Jahrhunderten wird darum gestritten. Soll die christliche Gemeinde mit allen ihren Mitgliedern wirklich eine kompromisslose „Kontrastgesellschaft“ zur bürgerlichen Welt darstellen, wie einige Theologen meinen?

Ich versuche eine Antwort: Es handelt sich nicht um ein allgemeingültiges Gesetz, das – wie etwa die Zehn Gebote – jedermann/jedefrau streng verpflichtet, immer so und niemals anders zu handeln, also nicht töten, nicht die Ehe brechen, nicht stehlen... Die Bergpredigt stellt keine moralischen Forderungen – sie ist eine Herausforderung. Sie will den Menschen geradezu verführen: zu einem ganz anderen Lebensstil – nach dem Beispiel Jesu. Sie ist eher eine Einladung als eine Lebensordnung. Sie gibt Ziele vor, auf die man immer nur in kleinen Schritten zugehen kann und nicht ohne immer wieder zu versagen. Hier ist den Christen eine Lebensaufgabe gestellt, die niemals endgültig erfüllt werden kann. Aber wer sich darauf einlässt, es da und dort immer wieder einmal zu versuchen, wird erfahren, wie er/sie auf diesem Weg nach und nach mehr Mensch wird.