Erfüllte Zeit22. 06. 2003, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr
Ein
Frosch im Brunnen von
Anselm Grün „Ein
Frosch, der im Brunnen lebt, beurteilt das Ausmaß des Himmels nach
dem Brunnenrand.“ So lautet ein mongolisches Sprichwort. Die
Mongolen sind ein Volk, das die Weite der Steppe liebt. Ihre
Beweglichkeit und ihr Drang nach Offenheit sind aus der Geschichte
bekannt. Und diese Eigenschaften prägen noch heute die
nomadisierenden Stämme. Das zitierte Sprichwort macht ihre Weisheit
gegenüber jeglicher geistigen Enge deutlich. Manchmal
gleichen wir selbst dem Frosch, der das Ausmaß des Himmels nach dem
Brunnenrand beurteilt. Wir sehen nur das Vordergründige. Der Frosch
schwimmt im Wasser und blickt nur manchmal nach oben. So schwimmen
wir in den vielen Aufgaben unseres Alltags. Ab und zu erheben wir
unseren Blick und sehen den Himmel. Doch wir erkennen nicht seine
unendliche Weite. Nur wer die Sehnsucht nach dem Unendlichen in sich
trägt, kann die Unendlichkeit des Himmels wahrnehmen. Und darin
liegt ein Paradox: Nur wer nach innen blickt, vermag richtig nach außen
zu sehen. Nur wer in sich die Sehnsucht nach einer Welt trägt, die
alles Diesseitige übersteigt, hat den rechten Blick für diese
Welt. Sie ist nicht mehr alles für ihn. Die Sehnsucht korrigiert
das, was er sieht, so dass alles sein rechtes Maß bekommt. (Aus:
Anselm Grün/Hg. Anton Lichtenauer „Buch der Sehnsucht“, Herder
Verlag) |