Erfüllte Zeit

22. 06. 2003, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr

 

Markus 4, 35 - 41

von Univ. Prof. Michaela Kronthaler

 

Die biblische Erzählung des heutigen Sonntags beginnt mit dem „Abend jenes Tages“. Gemeint ist damit „jener Tag“, an dem Jesus vom Boot aus in vielen Gleichnissen eine große Menschenmenge lehrte. Nun aber ist es Abend: Zeit des Alleinseins, Zeit, wo man sich von der Geschäftigkeit des Alltags ausruhen möchte, um neue Kräfte zu sammeln, wo man sich mit Freunden, der Familie, zurückziehen möchte.

 

Mit der Bitte Jesu, den Ort zu wechseln, lenkt das heutige Evangelium auf das Hauptereignis dieser Erzählung. Da bricht während der Überfahrt ein heftiger Orkan aus. Wer mit dem Boot auf dem See Genesareth schon einmal unterwegs war, kann sich diese Szene gut vergegenwärtigen. Ich erinnere mich, wie bei einer Fahrt über den See die Schiffsbetreiber den Motor des Bootes bewusst abstellten, damit die Pilgerinnen und Pilger des Hl. Landes die Kraft dieses Sees - das Brechen der Wasserwogen – noch deutlicher vernehmen konnten. Und wer einen richtigen Wirbelsturm mit einem Schiff oder in einem Flugzeug schon miterlebt hat, weiß, wie da einem zumute ist, wenn alles erschüttert wird. Welche Angst mussten da die Jünger verspürt haben, als die Wellen hoch schlugen, sich das Boot mit Wasser zu füllen begann. Die Jünger sind drauf und dran, das Wasser wieder auszuschöpfen, um nicht unterzugehen. Sie hoffen, mit dieser dramatischen Situation selber fertig werden zu können. Sie verlassen sich auf ihre eigenen Kräfte. Vielleicht haben sich die Jünger nach diesem vollen Tag mit dem Zustrom der Menschenmassen stark genug gefühlt. Vielleicht wollen sie aber auch demonstrieren: Wir schaffen das. - Allein. – Dazu brauchen wir Jesus nicht. Als sie sich als erfolglos erfahren, als der „Untergang“ droht, verfallen sie in Verzagtheit. Erst jetzt – in dieser Situation der Ohn-Macht – richten sie ihren Blick auf Jesus.

 

Das Evangelium erzählt uns, wie Jesus dieses lebensbedrohende Ereignis erlebt. Er liegt im Heck und schläft. Jesus ist der einzige ruhende Pol in dieser Szene, der einzige, der keine Angst hat. Die Jünger wenden sich an ihn. Aber bemerkenswerter Weise nicht mit der Bitte, Hand anzulegen, das Wasser aus dem Boot zu schaffen, sondern mit dem forschen Vorwurf: „Lehrer, Meister, kümmert es dich nicht, dass wir zugrunde gehen?“

 

Ist nicht auch uns diese harte Klage aus dem realen Leben bekannt: „Gott, siehst du nicht unser Schicksal? Ist es dir gleichgültig, was uns widerfährt?“ Nach dem sofortigen Eingreifen, seiner rettenden Reaktion („Da stand er auf und drohte dem Wind ... Und es trat völlige Stille ein“) kritisiert Jesus den Kleinglauben der Jüngerinnen und Jünger, ihr mangelndes Sich-Anvertrauen: „Warum seid ihr so feig!“

 

Jesus tadelt, dass sie nur auf ihre eigenen Kräften setzen. Sie haben nicht mehr ihn – den eigentlichen Bezugspunkt und Freund des Lebens - im Auge, sondern den Sturm. Und erst als sie bemerken, dass sie es allein nicht mehr schaffen, verzagen sie.

 

Die Erzählung schließt mit der großen Furcht der Jünger. Sie haben erfahren, dass jemand da ist, der viel größer ist als die Erschütterungen, die sie erlebten. Der griechische Urtext meint damit die religiöse Furcht, die Ehrfurcht, die spüren lässt, dass wir vor einem Mysterium stehen. Staunen vor dem Mysterium, vor dem Wunderbaren und dem Geheimnis ist der Anfang aller Ehrfurcht.

Für mich ist das heutige Evangelium eine Ermutigungsgeschichte auf unserem Glaubensweg, der nicht frei von Ängsten und Anfälligkeiten ist. Glaube ist nicht ein abrufbarer Besitz, über den wir so einfach verfügen können, sondern ein Geschenk. Christliche Existenz ist kein Zustand, sondern ein Weg, verbunden mit Bewährungsproben und einem spannungsvollen Wachstums- und Reifungsprozess.

 

Mir bedeutet diese Bibelstelle sehr viel, weil sie so aus dem konkreten Leben gegriffen ist. Kennen nicht auch wir den Wirbel der Beklemmung, die Situationen, in denen wir uns nicht mehr hinaussehen, in welchen wir vor dem Aufgeben stehen? Mangelnder Glaube, Furcht, Zweifel machen einen immer unsicher, stellen die eigene Identität in Frage, die eigenen Kräfte auf die Probe. Manche Menschen sind überzeugt, in ihrem Leben Gott primär nur als „Schlafenden“ zu erfahren.

Glaube hat mit dem Geheimnis der liebenden Gegenwart Gottes in unserer Welt zu tun. Es ist oft schwer zu erfassen, dass Gott in allen verborgenen und schwierigen Momenten unseres Daseins bei uns ist - in meinem Lebensboot, vor allem, wenn Nächte scheinbarer Gottverlassenheit kein Ende nehmen.

 

Für mich ist der Schluss des heutigen Evangeliums ein ermutigendes Beispiel für die spirituelle Reifung eines/r ChristIn: nämlich aus der Furcht zur Ehrfurcht zu finden.

Die heutige Erzählung fordert mich auf, in schweren Lebenssituationen den Blick auf Jesus nicht zu verlieren. Denn wer ihm anvertraut, kann nicht untergehen. Oder wie es in einem Lied heißt, wer auf Gott seine Zuversicht setzt, „den bzw. die verlässt er nicht“.