Erfüllte Zeit

29. 06. 2003, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr

 

Simone Weil

 

Die beste Stütze des Glaubens ist die Gewähr, dass unser Vater, wenn wir ihn um Brot bitten, uns keine Steine gibt. Jedes Mal, wenn ein menschliches Wesen, selbst außerhalb jedes expliziten religiösen Glaubens, eine Anstrengung der Aufmerksamkeit leistet, mit dem einzigen Verlangen, dadurch tüchtiger zu werden zur Erfassung der Wahrheit, erwirbt es diese vermehrte Tüchtigkeit, auch wenn seine Anstrengung keine sichtbaren Früchte gezeitigt hat. Ein Märchen der Eskimo erklärt den Ursprung des Lichtes folgendermaßen: „Der Rabe, der in der ewigen Nacht keine Nahrung finden konnte, begehrte nach dem Licht, und es ward hell über der Erde.“ Ist das Begehren echt, begehrt man wirklich das Licht, so bringt das Begehren nach dem Licht das Licht hervor. Das Begehren ist echt, wenn man die Aufmerksamkeit anstrengt. Und man begehrt wirklich das Licht, wenn jeder andere Beweggrund fehlt. Selbst wenn die Anstrengung der Aufmerksamkeit über Jahre hindurch scheinbar fruchtlos bleiben sollte, so wird eines Tages doch ein dem Grad dieser Anstrengung genau entsprechendes Licht die Seele überfluten. Jede Anstrengung fügt ein Körnchen Gold zu einem Schatz, den nichts auf der Welt uns rauben kann.

Aus: „Mystik – Ein Lesebuch für Nachdenkliche“, Michaela Diers, Deutscher Taschenbuch Verlag