Erfüllte Zeit20. 07. 2003, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr
Dietrich BonhoefferTagebuch
21.7.1944 Ich
habe in den letzten Jahren mehr und mehr die tiefe Diesseitigkeit
des Christentums kennen und verstehen gelernt. Nicht ein homo
religiosus, sondern ein Mensch schlechthin ist der Christ, wie Jesus
Mensch war. Nicht die platte und banale Diesseitigkeit der Aufgeklärten,
der Betriebsamen, der Bequemen oder der Lasziven, sondern die tiefe
Diesseitigkeit, die voller Zucht ist, und in der die Erkenntnis des
Todes und der Auferstehung immer gegenwärtig ist, meine ich. Ich
glaube, dass Luther in dieser Diesseitigkeit gelebt hat. Ich
erinnere mich eines Gespräches, das ich vor 13 Jahren mit einem
französischen jungen Pfarrer hatte. Wir hatten uns ganz einfach die
Frage gestellt, was wir mit unserem Leben eigentlich wollten. Da
sagte er: ich möchte ein Heiliger werden (und ich halte für möglich,
dass er es geworden ist); das beeindruckte mich damals sehr.
Trotzdem widersprach ich ihm und sagte ungefähr: ich möchte
glauben lernen. Lange
Zeit habe ich die Tiefe dieses Gegensatzes nicht verstanden. Ich
dachte, ich könnte glauben lernen, indem ich selbst so etwas wie
ein heiliges Leben zuführen versuchte. Später erfuhr ich und ich
erfahre es bis zur Stunde, dass man erst in der vollen
Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt. Wenn man völlig darauf
verzichtet hat, aus sich selbst etwas zu machen – sei es einen
Heiligen oder einen bekehrten Sünder oder einen Kirchenmann, einen
Gerechten oder Ungerechten, einen Kranken oder einen Gesunden –
und dies nenne ich Diesseitigkeit, nämlich in der Fülle der
Aufgaben, Frage, Erfolge und Misserfolge, Erfahrungen und
Ratlosigkeiten leben, - dann wirft man
sich Gott ganz in die Arme, dann nimmt man nicht mehr die
eigenen Leiden, sondern das Leiden Gottes in der Welt ernst, dann
wacht man mit Christus in Gethsemane, und ich denke, das ist Glaube,
das ist Umkehr und so wird man ein Mensch, ein Christ. Wie sollte
man bei Erfolgen übermütig oder an Misserfolgen irre werden, wenn
man im diesseitigen Leben Gottes Leiden mitleidet? Aus
„Widerstand und Ergebung“, Gütersloher Verlagshaus |