Erfüllte Zeit20. 07. 2003, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr
Frater Bernhard Eckerstorfer (Markus 6, 30 – 34) Die üblichen exegetischen Kommentare können mit
diesem Abschnitt aus dem Markusevangelium nicht viel anfangen. Sie
sehen darin eine Art Übergangsszene ohne eigenständige Bedeutung.[1]
Wenn wir uns jedoch auf diese Schilderung und ihre Dramatik
einlassen, begegnen wir einem kleinen Juwel, einer Szene, die uns
konfrontiert mit einer orientierungslosen Menschenmenge, den ermüdeten
Aposteln und Jesus. Von ihm sagen wir so leicht dahin, er sei der
gute Hirte. Aber es braucht einen langen Weg, um das zu verstehen.
Da sind einmal die vielen Menschen, die herumirren und ihr Ziel nicht finden können.
Markus beschreibt sie mit einem Bild, das er aus dem Alten Testament
nimmt: “Sie sind wie Schafe, die keinen Hirten haben.” Diese
Menschen gehen eilig ihre Wege; eben weil sie - uns postmodernen
Sinntouristen nicht unähnlich - lediglich ihren
Weg gehen, finden sie weder ein noch aus. “Wir alle irrten herum
wie Schafe, jeder ging seinen eigenen Weg”, sagt der Prophet
Jesaja (Jes 53,6). Und Matthias Claudius fasst in seinem berühmten
“Abendlied” dieses ausweglose Kreisen um sich selbst in die
Verse:
Wir stolze Menschenkinder Sind eitel arme Sünder Und wissen gar nicht viel; Wir spinnen Luftgespinste Und suchen viele Künste Und kommen weiter von dem Ziel. Auch die Apostel kommen ausgelaugt zu Jesus. Sie sind zwar schon lange mit ihm beisammen gewesen und nun von ihm ausgeschickt worden. Dennoch scheinen sie rastlos und auf ihr eigenes Gelingen zu bauen. Ihre vielen Taten und Worte können nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie Jesu Botschaft noch nicht wirklich verstanden haben. Die Apostel sind Schafe geblieben, die einen Hirten brauchen. Sie haben sich übernommen und wissen nicht mehr weiter. So sehr haben sie sich kopflos engagiert, dass sie nicht einmal Zeit zum Natürlichsten, zum Essen finden. Sie sind ausgebrannt.
Und dennoch: wie bewegend, mit welcher Witterung und
Zähigkeit die Menschen Jesus suchen: Mit dem Einsatz all ihrer
Kraft und Empfindsamkeit strömen sie zu Fuß genau an jenen
einsamen Ort, wo Jesus mit den Jüngern landen wird. Wie groß auch,
dass die Apostel Jesus alles berichten, ihr Leben vor ihm
ausbreiten, sich verausgaben. So stehen sie nun mit ihrer Armut und
ihrer Größe vor Jesus.
Ihnen allen gegenüber ist Jesus zunächst einmal still. Er läuft nirgendwo hin und macht
keine großen Worte. Er ist der ruhende Pol, zu dem alle kommen.
Jesus hört den Jüngern zu. Er belehrt sie nicht besserwisserisch
und verschreibt ihnen auch nicht bloß vorübergehende Schonung - er
will mehr anbieten als billige Ratschläge und Durchhalteparolen.
Jesus gerät nicht in Panik, weil die Menschen nichts zu essen
haben, sondern bewahrt den Überblick; er hat Zeit und Mitleid. Er
lehrt sie lange und alle werden satt. Jesus - der gute Hirte. Was mag das bedeuten? Jesus
bleibt souverän. Er lässt sich weder von der Ratlosigkeit noch von
der Unruhe fangen. Er lädt die Jünger ein, aus der Geschäftigkeit
des Alltags auszusteigen und zu ihm zu kommen. Am vermeintlich
einsamen Ort gerät er angesichts des Andrangs nicht in Abwehr und
nicht in Aktionszwang. Doch zugleich wirkt er fast schwach; er lässt
zu, dass die anderen für ihn zum Schrittmacher werden - beinahe bis
zur Selbstaufgabe. In dieser Verbindung von Überlegenheit und
Zuwendung begegnet uns sein einladender Blick, sein ermutigendes
Wort und seine helfende Hand. Jesus zeigt uns, wer Gott ist und was
wir Menschen sein könnten.
Der gute Hirte, der Emmanuel, der Gott bei uns: Er
bleibt einsam, ohne unberührt zu sein, aufgeschlossen ohne sich zu
verlieren; er ist Kind, aber nicht kindisch, einfach, aber nicht
einfältig, fromm, aber nicht frömmelnd. Deswegen ist er so groß
und so verwundbar. Wir können diese Haltungen nicht antrainieren,
sondern nur von ihm erbitten. Deshalb spricht Matthias Claudius in
seinem Gedicht diesen Gedanken als Bitte aus - und vielleicht können
wir auch heute noch mit einem leisen Lächeln und doch mit Ernst
einstimmen: Gott, lass uns dein Heil schauen, Auf nichts Vergänglichs trauen, Nicht Eitelkeit uns freun! Lass uns einfältig werden Und vor dir hier auf Erden Wie Kinder fromm und fröhlich sein! [1]
Es handle sich um eine “kleine redaktionelle Überleitungsszene”,
mit der der “Redaktor der vormarkinischen Sammlung ... nur die
ursprüngliche, notwendige Einleitung der Speisungswunder
ausgebaut” hätte (R. Pesch), also um eine “künstliche
Szene”, deren Verse nur “schwer zu durchschauen” seien (W.
Schmithals). |