Erfüllte Zeit

03. 08. 2003, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr

 

Die Rede über das Himmelsbrot in der Synagoge von Kafarnaum

(Joh 6, 24-35)

von Michaela Moser

 

 

Das 6. Kapitel des Johannesevangeliums, das mit der Geschichte der Brotvermehrung beginnt, berichtet auf unterschiedliche Weisen vom "Hunger" der Menschen.

Manche der Stellen – wie jene vom Wunder des Brotvermehrens oder auch jene vom Wandeln Jesu am See – bezeugen sehr deutlich, die Kraft und die Hoffnung, die von den Taten und Worte Jesu ausgegangen sein muss, andere bleiben nur schwer erschließbar.

 

Für mich gibt es sehr viele Passagen in diesem Evangelium, die mich zutiefst befremden, und die mir auf den ersten Blick unverständlich erscheinen und irgendwie abgehoben. Auch die Rede vom Himmelsbrot, die das Evangelium des heutigen und der beiden nächsten Sonntage bestimmt, gehört dazu.

 

Gerade beim Johannesevangelium ist es mir deshalb wichtig, genauer hinzusehen, das Evangelium in seiner Gänze zu betrachten, denn nur dann werden die Themen deutlich, die sich durch dieses Evangelium ziehen und diese roten Fäden erleichtern es uns, auch die Botschaft jener Teile zu verstehen, die uns zunächst befremden und irritieren.

 

In vielen der Texte des Johannesevangeliums geht es um Angst und um Aufbruch, um Liebe und um Gemeinschaft – und es geht ganz besonders im 6. Kapitel um den Hunger der Menschen. Ein Hunger, der über den Hunger nach „vergänglicher Speise“ hinausgeht.

Die Zeit der vermutlichen Verfassung des Johannesevangeliums wird zwischen 80 und 90 nach Christus angesetzt, für die frühen Christinnen und Christen war dies eine Zeit großer Bedrängnis, die auch und vor allem von der Erfahrung des Ausgegrenztseins gekennzeichnet war.

 

Die johanneischen Gemeinden bestanden überwiegend aus Menschen jüdischer Herkunft, innerhalb der jüdischen Gemeinschaft wurden die Anhänger und Nachfolgerinnen Jesu als KetzerInnen und StörerInnen eingeschätzt und aus der synagogalen Gemeinschaft ausgeschlossen. Das hatte einschneidende Folgen für sie, auch in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht – denn die Synagogengemeinschaft war mehr als eine religiöse Vereinigung – und der Hunger der Menschen nach Brot ist deshalb auch im ganz direkten und unmittelbaren Sinn zu verstehen.

Zugleich war auch die wohl berechtigte Furcht vor den römischen Herrschern spürbar.

 

In diese Situation der Bedrängnis hinein wurde das Johannesevangelium geschrieben, das mit seinen Texten die Leserinnen und Hörerinnen zum Bleiben auffordern will.

 

Auch die Passage des heutigen Evangeliums berichtet deutlich von der Bedrängnis der Menschen und von ihrem dringendem Wunsch nach einem Zeichen. Die Wunder Jesu – die Brotvermehrung, sein Wandeln auf dem See – haben sie nur fürs erste "beruhigen" können, nun da das unmittelbare Erlebnis der Wunder vorbei ist und die Unsicherheit zurück kommt, wollen sie mehr. Sie wollen weitere Zeichen sehen, sie wollen erleben, was nach Überlieferung der Schrift ihre Vorfahren in der Wüste erlebt haben, sie wollen, dass es Manna von Himmel regnet, dass dieser Regen nie aufhört und sie sich in Sicherheit und Geborgenheit wägen können.

 

Jesus kann ihnen – und auch uns - diese Art der Sicherheit auf Dauer freilich nicht geben, er will es auch nicht – schon deshalb, weil diese Art der Sicherheit unfrei und abhängig machen würde. Er appelliert also an ihren und unseren Glauben und damit auch an unsere eigenen Kräfte, an unser verwandelndes Handeln.

An die Möglichkeit und an die Kraft der Veränderung zu glauben, und daran, dass wir gerufen sind, an dieser Veränderung mitzuwirken, ist der erste Schritt hin zu Veränderungen – im religiösen, aber auch im sozialen und wirtschaftlichen Leben.

 

Was Jesus im 6. Kapitel des Johannesevangeliums zeigt, ist vergleichbar mit dem, was wir heute „Empowerment“ nennen – die Stärkung der Kräfte der einzelnen, das eigenen Leben in die Hand zu nehmen, sich nicht unterkriegen zu lassen, sich mit anderen zusammenzuschließen und im Glauben an mögliche Veränderungen diese mit herbeizuführen. Oder dies zumindest zu versuchen. Dazu braucht es zunächst oft die unmittelbare, konkrete und praktische Hilfe – das ganz materielle und irdische Brot, etwas „zum Beißen“ zwischen den Zähnen – wie es in der Geschichte der Brotvermehrung verteilt wird. Es braucht aber auch das „Himmelsbrot“, das in den folgenden Versen an Bedeutung gewinnt und das für den Glauben steht, dass niemand – kein einziger Mensch - dürsten und hungern soll müssen.

 

Die Brotvermehrung hat deutlich vor Augen geführt, dass „genug für alle da ist“ und es auch in schwierigen Situationen möglich ist, alle satt zu machen. Fortan jedoch, so können die nachfolgenden Worte interpretiert werden, sind wir herausgefordert nicht länger darauf zu warten, dass dieses Brot "von oben gegeben wird" sondern uns selbst im Glauben dafür einzusetzen, dass niemand Hunger leidet und dürstet. Vielleicht sollten wir diese Botschaft des Johannesevangeliums mit bedenken und zu bedenken geben, wenn es zum Beispiel in aktuellen Diskussionen um die Streichung und Kürzung von Sozialausgaben und Pensionen geht, die wir uns in einem der reichsten Länder der Erde scheinbar nicht mehr leisten können.