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Erfüllte Zeit31. 08. 2003, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr
"Ihr gebt Gottes Gebot preis" (Markus
7, 1 - 8. 14 - 15. 21 - 23) von
Wolfgang Palaver Die
rituelle Unterscheidung zwischen Reinheit und Unreinheit gehört zu
den ältesten kulturellen Errungenschaften der Menschheit. Während
aber eine oberflächliche Aufklärung solche Vorschriften vorschnell
als Frühformen unserer modernen Hygiene missdeutet, dienen diese
vor allem der sozialen Ordnung, die Gewalt und Rivalität innerhalb
einer Gruppe eindämmen sollen. Was zur Gruppe gehört, gilt als
rein, während die Welt außerhalb der Gruppe durch ihre Unreinheit
bedroht. Reinheitsvorschriften
stehen im engsten Zusammenhang mit sozialen Ausschließungsmechanismen.
Sowohl das antike Griechenland als auch das alte Rom kannten
rituelle Reinigungsopfer, in denen regelmäßig Menschen getötet
wurden, um Unheil von der Gemeinschaft abzuwehren. Im pharisäischen
Judentum sind zwar solche reinigende Menschenopfer überwunden. Aber
noch immer dienen strenge Regeln mit ihrer Neigung zum Ausgrenzen
zur Aufrechterhaltung der kulturellen Ordnung. Das Wort „Pharisäer“
bedeutet „Abgesonderter“ und bezieht sich auf die Abtrennung,
die die Pharisäer gegenüber dem gemeinen Landvolk vollziehen, in
dem sie sich nur mit jenen Menschen identifizieren, die die rituelle
Ordnung in ihrem Sinne punktgenau beachten. Die Tischgemeinschaft
Jesu mit den Ausgeschlossenen – mit den Zöllnern, Sündern, Huren
und Armen, d.h. letztlich mit allen, die von den Pharisäern als
unrein angesehen wurden – deckt den versteckten Ausschließungsmechanismus
auf, der die rituellen Reinheitsvorstellungen beherrscht. Jesus
erkennt in den Ausgrenzungen dieser von den Menschen eingeführten
Riten die Preisgabe von Gottes Gebot, das auf das Heil aller
Menschen zielt. Die
antike oder pharisäische Sorge um Reinheit erscheint uns heute als
lächerliche und unverständliche Praxis. Doch unsere Überheblichkeit
ist unbegründet. Während urtümliche Reinheitsriten immerhin zur
Stabilisierung der sozialen Ordnung dienten, indem ein Minimum an
Gewalt den Kampf aller gegen alle einzudämmen versuchte, verkommt
die moderne Sehnsucht nach Reinheit in unserer Welt all zu leicht
zum Massaker, zur Massenvernichtung. Die perverse
nationalsozialistische Sehnsucht nach Reinrassigkeit oder die
ethnischen Säuberungen, die wir kürzlich in Europa erleben
mussten, sind nur die grausamsten Beispiele für die Versuchungen,
die unsere gegenwärtige Welt bedrohen. Jesu
Kritik der pharisäischen Reinheit überhebt sich nicht leichtsinnig
über die alten Riten, sondern stellt die viel grundsätzlichere
Frage nach der eigentlichen Quelle sozialer Konflikte. Nicht bösartige
Substanzen oder äußerliche Dinge treiben das menschliche
Zusammenleben in die Krise, sondern die Laster in unseren Herzen,
die dann entstehen, wenn wir unser tieferes Begehren nicht mehr auf
Gott ausrichten. In Übereinstimmung mit der Antike weiß Jesus,
dass wir deshalb der Reinigung vom Bösen bedürfen. Er klammert
sich aber nicht mehr an die strenge Beachtung äußerlicher Formen,
sondern riskiert den Blick in die Abgründe unseres Herzens, in
denen Hochmut, Neid, Habgier, Ehebruch und Mord lauern. Die alten
Riten ermöglichten soziale Ordnung, ohne diesen schwindelerregenden
Blick zu riskieren. In der modernen Welt drohen wiederum Massaker,
weil der falsche Glaube an die eigene Vollkommenheit nur durch die
Abschlachtung der bösen Anderen aufrecht erhalten werden kann. Der
Weg Jesu vermeidet diese beiden Sackgassen. Er ermöglicht uns den
Blick in die eigenen Abgründe, weil er in seiner Zuwendung zu uns Sündern
zuerst immer schon die Vergebungsbereitschaft Gottes zum Ausdruck
bringt. Weil der Vater Jesu Christi ein verzeihender Gott ist, können
wir unserem Versagen mutig gegenüber treten – ohne Verdrängung
unserer Schwächen und ohne sie anderen in die Schuhe schieben zu müssen.
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