Erfüllte Zeit

21. 09. 2003, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr

 

Markus 9, 30 – 37

von Veronika Prüller-Jagenteufel

 

"Der Menschensohn wird den Menschen ausgeliefert." Im griechischen Text heißt es wörtlich: Er wird ihnen in die Hände gegeben.

Beim Versuch, dem heutigen Evangelium näher zu kommen bleibe ich zunächst bei diesen Händen hängen. Ich schaue Menschen gern auf die Hände, sie offenbaren viel von dem, was einen Menschen prägt und kennzeichnet. Je nachdem sind diese Hände abgearbeitet und rissig, oder zart und gepflegt. Man sieht ihnen an ob sie oft in der Werkstatt oder am Computer oder für ein Musikinstrument gebraucht werden. Manchmal zeigen die Hände auch Anteile der Person, die sonst nicht so sichtbar sind: So habe ich etwa einmal an einem überaus gehemmten, fahrigen Menschen sehr schöne schmale Hände gesehen, die mir gezeigt haben, dass dieser Mann nicht nur voller Komplexe, sondern wohl auch sehr empfindsam und vielleicht sanft ist.

 

"Er ist ihnen in die Hände gefallen" oder "Jetzt bist Du ganz in meiner Hand" – solche Sätze erzählen davon, dass Menschen mit ihren Händen aber auch drohend und gefährlich sein können. Eine Phrase wie "ihnen in die Hände fallen" löst bei mir Assoziationen von verprügelten, gequälten, gefolterten Menschen aus; grauenvolle Bilder von dem, was Menschen fähig sind, einander anzutun.

 

Im heutigen Evangelium formuliert der Evangelist Markus noch einmal anders. Hier steht: Der Menschensohn wird den Menschen in die Hände gegeben, er wird ihnen ausgeliefert. Er fällt ihnen nicht zufällig in die Hände und auch nicht nach Flucht, Verfolgung und Kampf. In der Formulierung des Markus lese ich, dass Gott sich ganz bewusst in die Hände der Menschen gegeben hat. Für mich gehört das zum faszinierenden Kern der christlichen Botschaft: In der Menschwerdung und erst recht in der Leidensgeschichte, in die sie hineinführt, gibt sich Gott uns Menschen in die Hand.

 

Gott bleibt nicht fern und unantastbar, Gott setzt sich den Menschen aus, liefert sich aus – mit vollem Risiko. Und Jesus, so berichtet uns Markus, hat es erkannt: Stärker als die offenen Hände, die sich ihm entgegenstrecken, werden die Fäuste sein, die sich gegen ihn erheben. "Sie werden ihn töten."

 

Diese Lektion, so scheint mir, haben wir Menschen gründlich gelernt: Es ist lebensgefährlich, sich anderen in die Hand zu geben. Das scheint sich durch die Jahrhunderte immer wieder zu bestätigen. So vertrauen wir lieber auf die eigenen Kräfte, wollen um jeden Preis unabhängig sein, auf niemanden angewiesen. Helfende Hände, so fürchten viele, werden allzu leicht zu fordernden oder gar bedrohlichen Händen. Ausgeliefert und machtlos zu sein, gehört zu den schlimmsten Erfahrungen, die Menschen machen können.

 

Dennoch geht Jesus genau diesen Weg. Er macht ernst damit, dass sich in ihm Gott in die Hände der Menschen gegeben hat. Vielleicht kann er das, weil er weiter sieht, als bis zu dem augenscheinlichen Scheitern von Menschenfreundlichkeit und Vertrauen in die anderen: „Er wird auferstehen am dritten Tag.“ – Was Jesus damit sagen will, verstehen seine Jünger nicht.  Dabei mutet Jesus ihnen und auch uns nicht weniger zu, als miteinander so umzugehen, dass die menschlichen Hände wohltuend statt gefährlich sind. Er sagt, es muss nicht so sein, dass die stärkere Faust über die Schwachen und Kleinen verfügt. Wir könnten auch so achtsam aufeinander sein, dass wir berührbar werden und uns berühren lassen von rissigen wie gepflegten Händen, von Händen, die uns viel über die Menschen offenbaren.

 

Jesus sagt, die besondere menschliche Qualität liegt nicht darin, sich über die anderen zu erheben nach dem Motto. Ha, jetzt bin ich ganz oben, jetzt hab ich die anderen in der Hand. Sondern genau umgekehrt: Wer der Erste sein will, sei der Letzte und der Diener von allen. Von denen, die ihm nachfolgen, verlangt Jesus genau das, was er selbst tut: sich in die Hände der anderen zu geben anstatt selbst herrschen zu wollen. Und nicht wer sich den Mächtigen andient, wird in Gestalt der Angesehenen und Wichtigen Gott bei sich aufnehmen können, sondern wer sich einem Kind zuwendet, nimmt Gott auf.

 

Gott identifiziert sich nicht mit denen, die sich hinaufgeboxt haben, sondern mit denen, die ganz unten sind in der sozialen Hierarchie: den Letzten, den Dienern, den Kindern. Heute sind das vielleicht die Ausländer, die Migrantinnen, die Heimkinder, psychisch Kranke, Arbeitslose, Prostituierte. Oder ganz einfach die, von denen wir schnell einmal sagen: Der oder die ist ja wohl das Letzte.

 

Vielleicht wäre es leichter, sich vertrauensvoll in die Hände anderer Menschen zu begeben, wenn wir unser Zusammenleben so gestalten würden, dass die Ersten die Letzten und Diener aller sind, und wenn uns bewusst wäre, dass in den Verachteten Gott auf uns wartet? Vielleicht würden wir dann besser verstehen, dass Gott selbst diesen Weg gegangen ist und sich den Menschen ausgeliefert hat? Vielleicht wird ja unter Menschen, die einander mit offenen Händen aufnehmen, Christi Auferstehung neu Wirklichkeit, auch hier schon und jetzt.