Erfüllte Zeit

28. 09. 2003, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr

 

Eugen Drewermann

 

Es gibt zur Hölle auf Erden nur eine Alternative; sie besteht darin, die Dinge noch einmal ganz anders zu sehen. Es kommt darauf an, in den Hintergrund der Dinge zu schauen: Die Menschen sind keine Tiere. Und selbst bei den Tieren gibt es so viel an Güte, dass wir durchaus keinen Grund haben, unsere eigenen gesellschaftlich und psychologisch bedingten Sadismen in sie heineinzuprojizieren. – Unglaublich zärtlich zum Beispiel kann ein Gorillaweibchen sein. Durch die Presse der ganzen Welt ging im September 1996 die Nachricht, wie in einem Zoo ein Kind in ein Gorillagehege gefallen war und das Gorillaweibchen es auf den Armen zurück zu den Menschen trug, als es entdeckte, dass das Kleine von sich aus nicht stehen konnte, es war zu verletzt. Diese Ungeheuer an Kraft denken ganz offensichtlich nicht so brutal, wie man es uns Menschen mit Berufung auf sie als Pflicht zum eigenen Handeln einreden will. Recht betrachtet, könnten wir so viel selbst von den Gesetzen der Natur lernen, die uns umgeben. Doch dazu müssten wir vorweg die entscheidende Frage beantworten: Wie halten wir als Menschen stand? Wie lernen wir aus der Freude zu leben, in der Liebe zu reifen und uns in Freiheit zur Menschlichkeit zu entwickeln? Einzig eine solche Haltung verwandelt alles. Es war die Idee des Mannes aus Nazaret, alle internationalen Beziehungen umzuformen zugunsten einer universellen, globalen Menschlichkeit ohne Grenzen, ohne Ende.

 

Die ganze Frage unserer Identität hängt einzig daran, inwieweit wir begreifen, dass wir wesentlich Gott zugehören. Wir finden uns selber nur, wenn wir auf ein Gegenüber treffen, das uns leben lässt; biblisch gesprochen, vermöge einer reinen Güte die uns akzeptiert ohne Voraussetzung und die es uns dadurch ermöglicht, zu unserer Wahrheit zu stehen. Einzig wer begreift, wie sein Leben noch mal ganz neu beginnt in diesem Lichtkegel der Wahrnehmung, den die Person Jesu vermittelt, lernt eine Menschlichkeit, die anders kaum vorstellbar wäre.

 

Die einzige Alternative besteht wirklich darin, zu denken wie Jesus: Das, was der Welt zugrunde liegt, ist gütiger Natur, ist „väterlich“ gesinnt (oder „mütterlich“), es meint uns und will uns. So sein zu dürfen – welch ein Geschenk! Ein jeder Tag, verbracht in solcher Dankbarkeit, ist selbst ein Hymnus an die Freude, eine Wandlung zum Licht, ein Anfang wirklichen „Lebens“.

(Aus: Eugen Drewermann "Das Johannes Evangelium. Bilder einer neuen Welt. Erster Teil", Patmos-Verlag)