Erfüllte Zeit

12. 10. 2003, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr

 

 Markus 10, 17 -  30

 von Msgr. Dr. Norbert Rodt

 

In der Medizin braucht es die Röntgenstrahlen²) für jenes Bild, dessen Aussage das Verständnis für den ansonst unsichtbaren Zustand ermöglicht.

In der Exegese braucht es die Liebeskraft des Hinhörens und Einfühlens, damit das Bild mit Inhalt erkannt wird, das der heilige Autor vermitteln will: Markus vermittelt seiner gläubigen Zielgruppe, in nachösterlicher Gemeinde-Existenz angefochten lebend, eine christliche Lebensordnung!

 

Ehemals vermutlich selbständige Überlieferungseinheiten wurden zusammengefasst. Sie tragen die gedachte Überschrift: „Der Christ und der Reichtum“. Markus hat also – in der am heutigen Sonntag verkündeten Perikope – ein dreiteiliges Lehrstück verfasst. Die methodischen Strukturen: Einzelbelehrung eines engagiert Fragenden; Belehrung der Jünger und Verdeutlichung des Inhalts gegenüber Petrus, dem Sprecher aller Jünger; positiv schließt diese Trilogie zum Thema „Der Christ und das Vermögen“.

„Bestrahlt“ mit der liebevollen Kraft des Zuhörens und dem verständnisvollen Wissen3), also kompetent erhellt, ergibt sich ein Bild, das mich staunen lässt:

 

Der eingangs Jesus fragende Mensch hält seinen erwählten Ansprechpartner für einen zuverlässigen Interpreten des Willens Gottes. So erhält er auch, was er wollte: einen konkreten Imperativ, eine ihn persönlich betreffende Herausforderung. Diese Aufforderung weist der Mann erschreckt von sich. Seine im Inneren getroffene Entscheidung tritt zutage in äußerer Trennung: Er geht aus der Nähe Jesu. Zu viele „Güter“ hindern ihn zum Guten. Berechtigt, nach Sitte der Väter, hält er seine Güter für Beweis und Unterpfand göttlicher Auserwählung. Diese Haltung macht ihn unfähig zur Bejahung des Neuen, das mit Jesus angebrochen ist: in Jesus ist der Raum der Gottesherrschaft nahe gekommen.

Im Schulgespräch mit den Jüngern wird diese Heilstatsache erörtert, vertieft und betont: Reichtum gefährdet; Reichtum ist Hindernis für den Eintritt in die Nachfolge Jesu, in den Herrschaftsbereich Gottes. Ein Sprichwort schließlich soll aussagekräftiger Beleg sein.

Redaktionell gestaltet im dritten Teil dient Petrus als Adressat der Botschaft, dass die Preisgabe weltlicher Güter vor allem deshalb gefordert wird, weil diese die Freiheit für Gott und den Dienst an seiner Herrschaft behindern.

 

Einst hatte Jesus den Fragesteller als Zuhörer. Dieser ging betrübt weg. Jesu Wort war ohne Erfolg.

Einst hatte Jesus seine Jünger als Publikum. Diese waren erschrocken, ratlos und voll Kummer.

Einst hatte Jesus als erster aller Jünger Petrus als Adressaten.... so vermittelt uns Markus den Inhalt seiner dreifachen Belehrung. Wie es Markus bei seinem eigenen Publikum ergangen ist? Wie sich seine Zeitgenossen als Zuhörer dieses belehrenden Textes verhalten haben?

Wie es meinem Publikum ergeht? Sie sind mir Hörerin und Zuhörer!

 

Am Schluss will ich persönlich und konkret werden: ich habe bisher einmal statt des Begriffes Reichtum das Wort Vermögen gesagt. Ich liebe dieses „mehrdeutige“ Wort. Ich meine es gibt eher das wieder, was die Botschaft des heutigen Evangeliumstextes ist! Dem Christen, der Christin muss VERMÖGEN EIGEN SEIN, nämlich: Sollen, Wollen und Können!

 

Es geht Markus um Jesu großes Anliegen: nämlich um Freiheit von Besitz, um Nachfolge Jesu in der Kindlichkeit des Glaubens und um die Grundsätzlichkeit von Ehe – Botschaften dieses und des vergangenen Sonntags.

 

Gutmensch, gottgläubig, irgendwie christlich zu sein, genügt Jesu Anspruch nicht. Vernünftige Wohlanständigkeit besteht nicht vor Jesus und seiner Absicht. Ihm ist der Überschritt aus der Ordnung des Gesetzes in den Raum der Gottesherrschaft wichtig, also dem getauften und heute glaubenden Menschen abverlangt!

 

Jesus geht „aufs Ganze“. Dabei wird deutlich, dass Jesus nicht Leistung verlangt, sondern seine Liebe  verschenken will. Gottes Ordnung ist Leben in Liebe, nicht als Leistung. „Denn für Gott ist alles möglich“ (v.27) ist der Gipfel der damaligen Jüngerbelehrung4) und auch meiner Aussage.

 

Das Spiel des heutigen Sonntages, jedes Lebenstages, ja des ganzen Lebens lautet: „Gott macht mein Leben voll des Sinnes. Gott liebt mich. Er wird mich vollenden!“

 

ANMERKUNGEN

 

1)       Wilhelm Bruners, Eine Annäherung. Aus ferment 1/2003 „suchen und finden“, S 16f, Pallotiner Verlag, Gossau/schweiz

2)       Übrigens: Prof. W.K.Röntgen war der erste Nobelpreisträger für Medizin: Verleihung am 10. Dezember 1901.

3)       Vergl. II. Vatic. Konzil, Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung „Dei Verbum“, Art. 7-8, ua.: „Die apostolische Überlieferung kennt in der Kirche einen Fortschritt: es wächst das Verständnis der überlieferten Dinge und Worte durch das Nachsinnen und Studium der Gläubigen, die sie in ihrem Herzen erwägen...., durch innere Einsicht, die aus geistlicher Einsicht stammt, durch die Verkündigung....“

4)       Vgl dazu: A. Schulz, Die Episteln und Evangelien der Sonn- und Festtage, Auslegung und Verkündigung. Die Evangelien (4/Lesejahr B), Stuttgart 1970,.S 519ff