Erfüllte Zeit

12. 10. 2003, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr

 

Peter Schellenbaum

 

Auf einer Wanderung vor etwa einem Monat geschah mit mir eine seltsame, plötzliche Wandlung. Bislang schmerzte mich der allmähliche Niedergang einer alten religiösen Kultur, die mich als Kind und jungen Erwachsenen belebt und beflügelt hat. Der Schmerz engte mich ein, bedrückte die Brust, schwächte die Verbindung zu dem, was da unterging und verschwand. – Auf einmal nun tauchte in mir ein Zukunftsbild zusammen mit einer neuen Deutung auf: alle heiligen Bilder nicht nur verblasst, sondern gänzlich ausgewischt, und ich damit einverstanden: befreiende, wunderbare Abwesenheit; aus dem bergenden Hort der Apsen strahlende Leere; das Gefühl von Offenheit, Verfügbarkeit, Empfänglichkeit, Freiheit, Zukunftsfreudigkeit. Im gleichen Moment atmete es in mir wieder tief und kräftig; die Verbindung mit den alt vertrauten und manchmal etwas nostalgisch betrauerten Wegkapellen vibrierte in mir mit neuer, heiterer Lebendigkeit. Heimat, Geborgenheit, jede Apsis ein Tor zu einer Verbindung, die keiner Bilder und Sinnsprüche bedarf. Bald darauf stieg in mir der Wunsch auf, die vielen leer stehenden und sich leerenden Klöster mögen sich neu füllen; ihre Bilder, wenn nicht ausgewischt, so doch neu gedeutet; ihre Traditionen, wenn nicht beiseite geschoben, so doch wenigstens zum Teil in frischer Freiheit neu empfangen und sinnvoll, ohne autoritäre Verordnung gelebt, auch ergänzt durch fernöstliche Traditionen, so weit diese für uns lebbar, assimilierbar, fruchtbar sind; die Gemeinschaftsdisziplin erhalten, doch von gemeinsamem innerem Erleben her neu praktiziert und für Veränderungen offen.

 

(Aus: Peter Schellenbaum „Im Einverständnis mit dem Wunderbaren“, dtv-Verlag)