Erfüllte Zeit

26. 10. 2003, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr

 

Friedrich Heer

 

Geben wir uns die Hände (wer mehr zu geben hat, wer mehr zu geben wagt, sei gesegnet). Geben wir uns also die Hände: das Hingeben der Hand zum Händedruck ist ursprünglich der offen manifestierte Verzicht des Mannes mit seiner Rechten nach der Waffe, nach dem Schwert, dem Degen zu seiner Linken zu greifen. Ist also Angebot des Friedens, Verzicht auf den jederzeit möglichen Schlag, Schlagabtausch.

 

Geben wir uns also die Hände: Fest, Feier sind Versöhnung, sind Angebote der Versöhnung nach Oben und Unten: Ursprünglich Versöhnung der Himmel und der Unterwelt, der oberen und der unteren Götter. Versöhnung von dem, was im Menschen, in der Person, oben ist, und dem, was unten, in seinen Eingeweiden  haust und ja nie getötet werden soll. Auch nicht in Abtötungen des Fleisches.

 

Versöhnung sodann von Stadt und Land, in Stadt und Land: in der Familie des Menschen, die in jedem Haus, in jedem Dorf, in jedem Land, in jeder Stadt sich jederzeit als ein Bürgerkrieg produzieren, manifestieren kann.

 

Geben wir uns also die Hände, feiern wir das Fest: wir brauchen es ja alle: als eine sehr bewusste Stiftung von Frieden: hier heute. Das Fest also: Programmierung des Großen Friedens: der ja darin besteht, dass alle, wirklich alle mitspielen können: die jungen und die alten Generationen, die Leute von links und von rechts, die Frauen und Männer von vorgestern und gestern und die von heute und die von Morgen. Keiner sei ausgeladen, keiner sei exkommuniziert, keiner sei diffamiert! Alle seien eingeladen. Die Kranken und die Gesunden, die Bresthaften, Anormalen und die schrecklichen Normalen, die also mit dem engen Blick, die sich und anderen Menschen so schwer Friede, Freude geben können.

 

Das ist ja die aufregende Bedeutung des großen Festes, das permanente Revolution ist, Aufstand des Menschen zu einer Selbstbehauptung, die alle Grenzen überschreitet: mit den Mitteln des Festes, der Feier.

 

Fest also als Grenzüberschreitung von Mensch zu Mensch: Fest kann Menschen miteinander bekannt machen, die sich nachweislich nicht riechen können, nicht riechen konnten zuvor.

 

Das Große Fest wendet sich „an alle“. „An alle Lebenden“. An Alle. An alle Lebenden! Das war der Tenor, war wörtlich die Frohbotschaft, die die jungen Bolschewiki 1917 per Funk in alle Welt, an alle Welt hinaussandten. Dieses Große Fest wurde verdorben.

 

Wagen wir das Fest immer wieder: es ist so gefährdet, wie alle Friedens-Aktionen des Menschen. Feiern wir also: geben wir uns Frieden.

 

Aus: Friedrich Heer "Europa - Rebellen, Häretiker und Revolutionäre". Ausgewählte Essays, Verlag Böhlau 2003