Erfüllte Zeit

01. 11. 2003, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr

 

Matthäus 5, 1 – 12a

von Helga Kohler-Spiegel

 

Sich die Welt anders denken, als sie ist – können wir das überhaupt noch? Was wäre wenn.... Was wäre, wenn ich in einer anderen Familie aufgewachsen wäre? Was wäre, wenn ich einen anderen Beruf gewählt hätte, wenn meine Umgebung, wenn meine Familie, wenn die Welt ganz anders wären? Was wäre, wenn.... Die Bergpredigt ist ein Text, der nicht davon spricht, was wäre wenn, sondern der einfach sagt: Es ist so. Die Welt wird anders sein. Die Seligpreisungen nehmen vorweg, wie diese Welt sein wird, wenn sie nach den Regeln Gottes funktioniert.

 

Aber: Die Verkündigung Jesu beginnt ein paar Verse früher. In Kapitel 4, Vers 17 heißt es: „Wendet euch von euren Sünden zu Gott, denn das Reich des Himmels ist nahe!“ – so übersetzt das jüdische Neue Testament diese Stelle. Dann – nach der Berufung der ersten Jünger und nach zahlreichen Heilungen aufgrund derer die Menschen zu Jesus kommen – folgt diese Rede vor den „Massen“, wie es wörtlich heißt, den vielen Menschen. Die Rede auf dem Berg – es ist bekannt, dass Matthäus und seine Gemeinde, gut jüdisch, Jesus als den neuen Moses sieht. Parallel zu den fünf Büchern Mose fasst Matthäus die zentrale Verkündigung Jesu in fünf große Reden, die erste davon ist die sogenannte „Bergpredigt“.

 

Wie Moses die Weisungen auf dem Berg empfangen hat, so verkündet Jesus auf dem Berg die neuen Weisungen. Die Zehn Gebote sind Schutzbestimmungen für ein Leben in Freiheit, für ein Leben im Gelobten Land. In einer Gruppe von Menschen, die selbstbestimmt miteinander leben will, braucht es Regeln, damit in diesem Zusammenleben niemand unter die Räder kommt, damit nicht die Schwächsten der Gruppe zu kurz kommen. Mit den Weisungen wollen die Menschen das Leben der Schwächeren schützen - in allen Situationen. Denn - und diese Begründung ist im Ersten Testament wichtig: Wir haben erlebt, was es bedeutet, wenn unsere Würde missachtet und unsere Freiheit zerstört wird, wir haben erlebt, was es heißt, unterdrückt oder Flüchtling zu sein. Also wollen und brauchen wir Regeln, die verhindern, dass wieder Gewalt und Unterdrückung herrschen. Die Zustimmung des Volkes schließt die Überlieferung der Zehn Gebote ab: Das ganze Volk antwortete einstimmig und sagte: Alles, was der Herr gesagt hat, wollen wir tun" (Ex 24,3).

 

Parallel zu diesen Weisungen nun also die Bergpredigt, und die Seligpreisungen sind als Präambel zu verstehen, sie beschreiben die neue Ordnung Gottes als gegenwärtig: „Selig sind.....“ Matthäus preist nicht Armut und Elend als „selig“, sondern er betont: Wenn die Ordnung Gottes gilt, wenn die Umkehrung wirklich Fuß fasst (wie es in Mt 4,17 heißt), dann gelten andere Maßstäbe. Die Bergpredigt wird oft „die neue Gemeindeordnung der Christinnen und Christen“ genannt: Wenn wir so leben, wie Jesus gelebt hat, wenn wir wirklich weiterleben, was Jesus wichtig war, dann sind die Armen selig. Nicht weil Armut gut ist, sondern weil in unserer Gemeinschaft die Armen nicht unter die Räder kommen, weil die Armen aufatmen können, weil die Umkehrung der Werte auch bewirkt, dass die Armen nicht wieder einmal die Betrogenen sind, sondern weil sie – in einer solchen Gemeinschaft – ihren Platz haben, versorgt sind und damit „selig“ sind. Oder nochmals anders: In der Welt, wie sie landläufig funktioniert, werden die Friedfertigen an den Rand gedrängt und lächerlich gemacht, das wissen wir. In der Gemeinschaft derer, die so leben wie Jesus, werden die Friedensstifter nicht ausgenutzt, sondern sie sind im Zentrum, weil Jesus selbst ein Friedensstifter war.

 

Diese neuen Weisungen sind – um es deutlich zu sagen – „ver-rückt“: Denn wir wissen alle, dass so die Welt nicht funktioniert. Wir wissen alle, dass den Reichen die Welt gehört, dass die Armen unter die Räder kommen, dass sich niemand kümmert. Heute am Fest aller Heiligen erinnern wir, dass Männer und Frauen seit Jesus so zu leben versuchen, wie Jesus gelebt hat. Paulus hat immer wieder alle Christinnen und Christen als „Heilige“ bezeichnet. Er verwendete das Wort im ursprünglichen Sinn: Heilig – das meint herausgehoben, abgesondert, etwas Besonderes sein. In einer Gruppe, in einer Gemeinschaft, in der die Friedenstiftenden das Sagen haben, in der die Barmherzigen, die Hungernden und Durstenden im Mittelpunkt stehen, in einer solchen Gemeinschaft muss ich keine Angst haben, wenn ich krank werde, wenn ich alt und müde werde.

 

Über Jahrhunderte hinweg wurde versucht, die Radikalität der Bergpredigt zu reduzieren und zu domestizieren, der Text sollte harmlos gemacht werden, er gelte, so hieß es, nur für Mönche und Nonnen, man müsse den Text im übertragenen Sinn verstehen, und und und. Lassen wir uns die Radikalität der Bergpredigt nicht nehmen, lassen wir uns nicht nehmen, dass überall dort, wo Menschen leben wie Jesus, „eine neue Welt beginnt“. In unserem Alltag werden wir die Seligpreisungen weiterschreiben müssen, damit wir nie vergessen, dass die „neue Welt“ keine Welt von Macht und Geld und Gentechnik und Massenvernichtungswaffen sein muss, sondern eine Welt, in der wir sagen können: Selig sind die arm sind vor Gott.

 

Ich schließe mit ein paar Seligpreisungen aus der heutigen Zeit, damit auch in unserem Alltag, in unserem Umfeld „eine neue Welt“ beginnen kann:

 

Selig sind, die Humor haben und über sich selbst lachen können; sie werden nie aufhören, sich zu amüsieren.

Selig, die einen Maulwurfshügel von einem Berg unterscheiden können; sie werden vielen Schwierigkeiten entgehen.

Selig, die sich darauf verstehen, zu schweigen und zuzuhören; sie werden viel Neues erfahren.

Selig, die acht darauf haben, was andere brauchen, und sich dabei nicht für unentbehrlich halten; sie werden Leute sein, die Freude säen.

Selig seid ihr, wenn ihr versteht, die kleinen Dinge des Lebens mit Ernst und die ernsten Dinge mit Gelassenheit zu sehen; ihr werdet im Leben weit kommen.

Selig seid ihr, wenn ihr fähig seid, die Haltung des anderen mit Wohlwollen zu deuten, auch wenn der Augenschein dagegen spricht; man wird euch für naiv halten, aber die Nächstenliebe ist nicht billiger zu haben. (anonym überliefert)