Erfüllte Zeit01. 11. 2003, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr
Aus:
„Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers“ (Hg.
von E. Jungclaussen, Verlag Herder) Die
Wurzel, das Haupt und die Kraft aller Leidenschaften und Handlungen
des Menschen, ist eingeborene Selbstliebe. Das wird bestätigt durch
die eingefleischte, allgemeine Idee der Selbsterhaltung. Jeder
Wunsch, jedes Unternehmen, jedes Tun des Menschen hat im Letzten
Befriedigung der Selbstliebe zum Zweck, oder wie man auch sagen
kann, das Trachten nach dem eigenen Besten. Die Befriedigung dieses
Bedürfnisses begleitet den natürlichen Menschen durch sein ganzes
Leben. Aber der Geist des Menschen lässt sich durch nichts
Sinnliches befriedigen, und die eingeborene Eigenliebe verstummt
niemals in seinem Streben; darum übersteigern sich seine Wünsche
je mehr und mehr, das Streben nach dem Guten wächst, erfüllt seine
Fantasie und stellt die Gefühle darauf ein. Das Entströmen dieses
inneren Empfindens und Wünschens, so wie es sich von selber
erschließt, ist der natürliche Drang zum Gebet, ist das Bedürfnis
der Eigenliebe, die nur mit Mühe ihr Ziel erreicht. Je weniger der
Mensch vorankommt und je mehr er sein Heil im Auge hat, desto mehr wünscht
er, desto stärker lässt er sein Verlangen im Gebet entströmen. Er
naht mit der Bitte nach dem Ersehnten der unbekannten Ursache alles
Seins. So ist denn die dem Menschen eingeborene Eigenliebe des
Lebens Hauptelement, das ursächliche Prinzip, das den natürlichen
Menschen zum Beten bestimmt! Der
weise Weltenschöpfer hat in die Natur des Menschen die Fähigkeit
der Selbstliebe gleichsam als ein Lockmittel hereingegeben – so
wird das von den Vätern ausgedrückt. Dieses Lockmittel ist aber
dazu bestimmt, das gefallene Menschenwesen wieder aufzurichten und
emporzuführen. Oh, wenn doch der Mensch diese Fähigkeit in sich nicht verdürbe und sie im Hinblick auf seine Geistnatur besonders rein erhielte! Alsdann hätte er eine starke Aufmunterung in sich selber und ein Mittel, um zur sittlichen Vollkommenheit zu gelangen. Aber wehe! Wie oft macht er diese edle Fähigkeit zu einer niedrigen Leidenschaft der Selbstliebe, wenn er aus ihr ein Werkzeug seiner tierischen Natur macht! |