Erfüllte Zeit

02. 11. 2003, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr

 

Johannes 11, 17 – 27

von Helga Kohler-Spiegel

 

El-asar, so heißt Lazarus im Hebräischen, hatte zwei Schwestern, Maria und Martha. Die drei lebten zusammen, und es heißt im Johannesevangelium: „Jesus liebte Marta und ihre Schwester und Lazarus“ (11, 5), er war oft bei den Geschwistern auf Besuch. Eine schwere Krankheit des Lazarus veranlasst die beiden Schwestern, Jesus zu benachrichtigen. Jesus wird erst kommen, als Lazarus schon tot ist, vier Tage bereits im Grab.

 

Neben der Erzählung selbst beinhaltet die Textstelle zentrale theologische Botschaften. In sieben „Ich-bin-Worten“ wird erschlossen, wer Jesus ist. Die Zahl Sieben gilt als heilige Zahl, symbolisch sind in der Zahl Sieben die Drei und die Vier verbunden – Drei wird als die göttliche Zahl verstanden, Vier als die Zahl der Welt, der Himmelsrichtungen und der Jahreszeiten. Drei und Vier zusammen, die Zahl des Himmels und der Erde, ergeben die Sieben, die Zahl der Vollkommenheit, das Allumfassende. In sieben Ich-bin-Worten Jesu ist im Johannesevangelium umfassend, endgültig und vollkommen ausgesagt, wer Jesus für die Menschen ist. „Ich bin das Brot des Lebens, ich bin das Licht der Welt, ich bin die Tür, ich bin der gute Hirte, ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben, ich bin der wahre Weinstock“ – und im heutigen Abschnitt des Evangeliums: „Ich bin die Auferstehung und das Leben.“ In den Ich-bin-Worten schließt Johannes an das Alte Testament an, der Name Gottes ist ja „Ich bin da, ich werde da sein, als der ich da sein werde – JHWH, ausgesprochen als Jahwe. Und Johannes betont: Der Ich-bin-da ist in Jesus da. Diese Ich-bin-Worte wollen Mut zusprechen, sie sind bei Johannes verbunden mit einer Verheißung, mit einer Entscheidung und mit einem Zeichen. Die Verheißung ist mit der Entscheidung verbunden: Wer glaubt, wird leben. Die Ich-bin-Worte rufen den Menschen eindringlich auf, sich für Jesus zu entscheiden, und sie verkünden gleichzeitig, welche Zuversicht und welcher Mut, welches erfüllte Leben dadurch möglich werden. Denn die Gemeinde des Johannes war schon dem Spott der Menschen und dem Druck von Behörden und anderen Glaubensrichtungen ausgesetzt, sie fühlten sich allein und verunsichert und zweifelten wohl manchmal selbst, ob der Weg Jesu für sie wirklich sinnvoll und heilbringend sei. Für diese Gemeinde – und für alle verunsicherten Menschen danach - bis heute – wollen die Ich-bin-Worte Mut machen: Der Weg Jesu ist nicht überholt, im Menschen Jesus ist das Antlitz Gottes sichtbar geworden, wie Jesus gelebt und geliebt hat, so ist Gott selbst.

 

Die Auferweckung des Lazarus ist das letzte Zeichen Jesu vor seinem Weg nach Jerusalem, vor seinem Leiden und seinem Sterben. Die Konflikte spitzen sich für Jesus massiv zu, davor schon (im 10. Kapitel) hätte Jesus gesteinigt werden sollen, im Anschluss an die Auferweckung des Lazarus fällt der endgültige Entschluss, dass Jesus sterben muss. Es ist eine Auseinandersetzung auf Leben und Tod - im wörtlichen Sinn.

 

Und nun: Martha geht Jesus entgegen. Ihr Vertrauen Jesus gegenüber ist unverbrüchlich, in ihrer Not und Verzweiflung über den Tod ihres Bruders drückt sie aus, was außer ihr nur von Petrus überliefert ist: „Ja, Herr, ich glaube, dass du der Messias bist, der Sohn Gottes...“ Marthas Bekenntnis zu Jesus als dem Messias ist parallel dem Bekenntnis des Petrus, klar und ohne Wenn-und-Aber. Keine Verleugnung und kein Missverständnis trüben dieses Messias-Bekenntnis der Martha. Ihr so großes Vertrauen zu Jesus ermöglicht Leben im Angesicht des Todes - für Lazarus, für sie selbst, für uns alle. Denn Jesus ist, so bekennt sie, der Messias, der Gott mit uns, der Leben schafft.

 

Die enge Beziehung Jesu zu Maria, zu Martha und zu Lazarus ist mehrfach betont. Gegen so viel Sterben und Tod stehen Freundschaft, Zuneigung und Liebe dieser Geschwister zu Jesus und umgekehrt. Gegen so viel Tod stehen Beziehungen, in denen Menschen einander im Schmerz nicht allein lassen. Jesus geht zu Martha und Maria, die Jünger gehen mit Jesus. Menschen gehen miteinander schwere und gefährliche Wege, Menschen lassen sich gerade in so schweren Krisen nicht im Stich. Darin liegt die Kraft dieser Szene: in der liebenden Beziehung dieser Personen untereinander - gerade auch im Leid und im Sterben - wird erfahrbar, wie im Tod Leben sein kann. In dieser Freundschaft wird konkret erfahrbar, dass in Jesus wirklich Leben ist, dass Gott wirklich da ist.

 

In einem Schulbuch für die 8-9jährigen Kinder heißt es:

„Sag es, wenn ich mich verkriechen möchte,

wenn ich meine Familie nicht sehen mag,

wenn ich genug habe von der Schule.

Sag: Ich bin bei dir.

Sag es, wenn die schlimmen Träume kommen,

wenn ich in der Nacht aufschrecke,

wenn ich am Morgen nicht aufstehen mag.

Sag: Ich bin bei dir.

...

Sag es immer:

Ich bin bei dir.“

 

Das gilt auch für unseren Alltag: Sag es mir, wenn ich einsam bin, sag es mir, wenn ich Angst um meine Partnerschaft habe, wenn ich mich wegen der eigenen Kinder sorge, sage es mir, wenn ich weiß, dass ich sterben werde, sag es mir, wenn ich untröstlich in Trauer bin, sag es mir – immer wieder: „Ich bin da.“ Und – das ist das Tröstliche am heutigen Evangelium: Sag es mir durch konkrete Menschen, die zu mir kommen, die bei mir sind, die mich nicht allein lassen, die mit mir trauern, die mit mir essen, die mich begleiten. Lass mich durch Menschen spüren und wissen: „Ich bin bei dir. Ich bin die Auferstehung und das Leben.“