Erfüllte Zeit

02. 11. 2003, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr

 

Dorothee Sölle

 

Ich wehre mich gegen ein Verständnis des Lebens, das die Endlichkeit, die Sterblichkeit negiert. In der Schöpfung sind vorgegeben ein Rhythmus des Lebens, ein Kommen und Gehen, eine Zeit des Tages und eine der Nacht, eine Zeit der Wärme und eine der Kälte. Das macht Zeitlichkeit aus, und dieses Jetzt oder Für-eine-Zeit im Gegensatz zum „Immer“ gehört einfach zum Leben der Geschaffenen. Vielleicht rede ich so, weil ich 73 Jahre alt bin, vielleicht auch, weil ich mich nicht so total von den Blumen, den Bäumen, den Tieren unterscheiden will. Ich kann den frechen Ausruf eines Dichters gut verstehen: „Hunde, wollt Ihr ewig leben?!“

 

Ich glaube schon, dass es Jahrhunderte lang einen Missbrauch des ewigen Lebens gegeben hat, eine falsche Vertröstung, dieses „Im Himmel wird es besser sein“. Gott hat doch hier auf der Erde, in dieser Zeit Leben für alle in Freiheit und Würde versprochen. „Ihr sollt mein Volk sein, und ich will euer Gott sein“, ein Zusammenhang von geliebt Werden und das lieben Lernen existiert und „soll“ sein. Mystische Sätze wie „Wo die Liebe ist, da ist Gott“ bleiben auch im Sterben eines Menschen wahr. Sie werden nicht zunichte. Der Tod kann sie nicht aufheben, muss er nicht vor der Liebe kapitulieren? Was die Tradition „ein seliges Ende“ nannte, war eine Bejahung des Fortgehens, ein nicht mehr krampfhaft am Weiterleben Festhalten, ein Ja zur Endlichkeit des geschaffenen Lebens. Ein todkrankes Kind von fünf Jahren sagte seinen Eltern: „Ich gehe schon vor, ihr könnt noch nicht mit.“ Lässt sich nicht eine Geborgenheit denken, die nicht in meiner Weiterexistenz liegt, wohl aber in Gottes Weiterexistenz? „Ich in dir, du in mir, niemand kann uns scheiden“ – reicht das nicht?

 

(Aus: Dorothee Sölle „Mystik des Todes“, Kreuz-Verlag 2003)