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Erfüllte Zeit14. 12. 2003, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1
Leonardo
Boff
Die
Befreiungstheologie ist in den sechziger Jahren aus dem Schrei der
Armen hervorgegangen. Dieser Schrei erklingt bis heute. Und er wurde
zum lauten Aufschreien, weil es nicht mehr nur die Dritte Welt
betrifft, sondern zwei Drittel der Menschheit. Nicht nur die Armen
schreien, sondern auch die Schöpfung, unsere Erde, die ausgeplündert
wird. In den neunziger Jahren geht es nicht um die Befreiung,
sondern um die soziale Ausschließung als Folge der neuen
Produktionsweisen, des Weltmarktes und des Neoliberalismus. Diese
soziale Ausschließung ist heute ein weltweiter Prozess, sowohl in
der Ersten wie in der Dritten Welt. Zynisch könnte man sagen: Hält
diese Entwicklung an, verlieren die Armen ihr Privileg, ausgebeutet
zu werden. Sie werden einfach ausgeschlossen, für nichts erklärt,
und wie beispielsweise die brasilianischen Straßenkinder von
Todesschwadronen wie lästige Hunde erschossen. Die Regierungen Südamerikas,
welche der Logik des Neoliberalismus folgen, haben den Staat
reduziert. Alle sozialen Dienstleistungen, sei es im Unterrichts-
oder im Gesundheitswesen, wurden gestrichen. Die Armen sind total im
Stich gelassen und sehen sich mit dem Tod konfrontiert. Die große
Aufgabe der Befreiungstheologie ist heute nicht so sehr, von der
Befreiung zu reden, sondern Leben zu retten und Menschen am Leben zu
erhalten.
Es ist
eine Theologie des Lebens entstanden, ein wichtiger Dialog zwischen
Ökonomie und Theologie, über die wirtschaftlichen Mechanismen, die
den Tod bringen oder das Leben hervorrufen. Die Betroffenen können
ihre Misere nur überwinden, wenn sie sich selbst organisieren. Etwa
in Basisgemeinden, die die Menschen aufsuchen, um zusammen das Wort
Gottes zu hören im Hinblick auf die Fragen, die sie haben, und dann
versuchen, durch die Konfrontation von Glauben und Politik zu einer
Aussage zu gelangen. So können sie Situationen als Sünde
bezeichnen. Ich betone Sünde, denn es ist mehr als eine
Ungerechtigkeit. Sünde hat mit Gott zu tun. Gott will dies nicht.
Es gehört zur Aufgabe der Kirchen, dies auszusprechen und
aufzuzeigen, welche Handlungen gangbar sind. Das Christentum ist
nicht etwas Statisches, sondern eine große Bewegung, die flexibel
ist. Die Theologie muss offen sein für solche Herausforderungen, für
den Schrei der Armen. Sonst bleibt eine Kluft zwischen der Welt des
Glaubens und der konkreten politischen Wirklichkeit.
Ich
selbst bin mehr Mystiker als Theologe. Mystik bedeutet nichts
anderes als das Leben in seiner Radikalität und letzten Dichte zu
sehen. Mystik befähigt uns zu vermuten, dass hinter den Strukturen
des Realen nicht das Absurde und der Abgrund mit ihren Schrecken
lauern, sondern dass dort Zärtlichkeit, Zuwendung und liebevolle
Geheimnisse herrschen. An diesem Punkt beginnt eigentlich erst das
Leben.
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