|
||||
Erfüllte Zeit28. 12. 2003, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1
Lukas 2, 41 – 52von Prof. Gerhard Bodendorfer Die Eltern Jesu gingen jedes Jahr zum Paschafest nach
Jerusalem. Als er zwölf Jahre alt geworden war, zogen sie wieder
hinauf, wie es dem Festbrauch entsprach. Nachdem die Festtage zu
Ende waren, machten sie sich auf den Heimweg. Der junge Jesus aber
blieb in Jerusalem, ohne dass seine Eltern es merkten. Sie meinten,
er sei irgendwo in der Pilgergruppe, und reisten eine Tagesstrecke
weit; dann suchten sie ihn bei den Verwandten und Bekannten. Als sie
ihn nicht fanden, kehrten sie nach Jerusalem zurück und suchten ihn
dort. Nach drei Tagen fanden sie ihn im Tempel; er saß mitten unter
den Lehrern, hörte ihnen zu und stellte Fragen. Alle, die ihn hörten,
waren erstaunt über sein Verständnis und über seine Antworten.
Als seine Eltern ihn sahen, waren sie sehr betroffen, und seine
Mutter sagte zu ihm: Kind, wie konntest du uns das antun? Dein Vater
und ich haben dich voll Angst gesucht. Da sagte er zu ihnen: Warum
habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss,
was meinem Vater gehört? Doch sie verstanden nicht, was er damit
sagen wollte. Dann kehrte er mit ihnen nach Nazaret zurück und war
ihnen gehorsam. Seine Mutter bewahrte alles, was geschehen war, in
ihrem Herzen. Jesus aber wuchs heran, und seine Weisheit nahm zu,
und er fand Gefallen bei Gott und den Menschen. Dieses Evangelium zeigt uns Jesus ganz menschlich, als
aufbegehrenden Jugendlichen, aber vor allem als wissbegierigen
jungen Juden, der sich in die Tradition seines Volkes versenkt,
lernt und lehrt in ihr. Die Familie ist auf dem Weg zum Pesachfest. So wie viele Tausende und Abertausende Juden aus den Dörfern jedes Jahr zu den großen Festen an den Tempel pilgerten, tun dies auch Maria, Josef und Jesus. Bei den zu erwartenden Menschenmassen war es durchaus nicht unvorstellbar, dass ein Kind einmal "verloren geht". Und da unser junger Jesus noch keiner Handygeneration angehört, macht es ziemliche Mühe, ihn zu finden. Man kann sich gut hineinversetzen in die Sorgen der Eltern, einen knapp Zwölfjährigen zu verlieren und tagelang zu suchen. Jesus aber sitzt im Tempel, mitten unter den Lehrern. Lukas zeichnet Jesus hier als einen wissbegierigen wie
auch hochintelligenten und bereits weisen jungen Mann, der sich dort
aufhält, wo sich die Weisheit trifft. Schriftgelehrte wie
Weisheitslehrer sind anwesend. Hier ist an eine Gruppe von Menschen
gedacht, die man bei der Abfassung des Evangeliums des Lukas einige
Jahre nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahr 70n.
bereits mit den Rabbinern identifizieren konnte, auch wenn es diese
zur Zeit Jesu noch nicht gab. Aber Lukas schildert ein Szenario, wie
es in einer jüdischen Schule, in einem Lehrhaus hätte geschehen können.
Menschen lernen das Wort Gottes vor allem dadurch, dass sie zuhören
und Fragen stellen. Gleichzeitig aber werden auch Antworten gegeben,
Diskussionen geführt. Die Umstehenden sind erstaunt über Jesus
Weisheit und seine Antworten. Das "Verständnis", von dem
hier die Rede ist, bedeutet die vom Glauben genährte Einsicht, oft
gleichbedeutend mit der Weisheit. In der tiefen Verbundenheit mit
dem Willen Gottes, der sich in den Schriften der Bibel offenbart,
lernt der Mensch wahre Weisheit und Einsicht. Jesus lernt wie auch
heute noch ein Talmudschüler lernt. Nicht schweigsam in sich
versunken, sondern hörend und sprechend, im Austausch mit den
anderen, im gemeinsamen Ringen um das rechte Verständnis. Hier ist
auch kein Wort des Misstrauens gegenüber Jesus auf Seiten der
Schriftgelehrten zu verspüren. Gerade an solchen Schlüsselstellen
werden die oft klischeehaft gezeichneten Pharisäer und
Schriftgelehrten als kluge, einsichtige und Jesus überaus
wohlgesinnte Weise gezeichnet. Nach bereits antiker jüdischer Überlieferung gilt
ein Knabe mit dem Alter von 13 Jahren und einem Tag als Mann und ist
ab diesem Zeitpunkt zur Einhaltung aller religiösen Gebote
verpflichtet. Jesus ist somit an der Schwelle zum Erwachsenwerden,
in einer Zeit des Lernens, des strengen Überprüfens des Wissens
und der Mühe um die Einsicht. In dieser Zeit entwächst der junge
Mann den Eltern, es stellt sich die Pubertät ein, in der auch Jesus
durchaus selbstbewusst und ein wenig aufmüpfig seiner Mutter
antwortet. Gleichzeitig verzichtet er auf eine weitergehende
Auseinandersetzung. Seine Eltern verstehen ihn nicht, vielleicht
weil sie in der Sorge um ihn keine offenen Ohren und Augen für das
Geschehen um ihn haben, vielleicht aber auch, weil sie sich wie alle
Eltern dagegen wehren, dass das Kind ihnen entwächst, selbständig
wird. Modern formuliert teilt er hier auch das Schicksal
hochbegabter Kinder, die von den Eltern mitunter nicht in der
rechten Weise verstanden werden. Umso eindrücklicher erscheint,
dass die Gelehrten im Tempel ihn sehr wohl verstehen und annehmen.
Er aber entscheidet sich, nicht zu bleiben, sondern mit seinen
Eltern zurück in die Provinz zu gehen, sich ihnen unterzuordnen und
noch eine ziemlich lange Zeit seine wahre Bestimmung verborgen zu
halten.
|