Erfüllte Zeit

04. 01. 2004, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

Ernesto Cardenal

 

Die Gegenwart Gottes ist unbestimmt und verschwommen, und je näher wir bei Gott sind, desto verschwommener kommt Er uns vor. Es ist als ob sich ein feiner, durchsichtiger Film zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit schöbe. Wir sind so nahe bei Gott, dass wir Ihn nicht erkennen.

 

Der Grund, dass wir Menschen die Gegenwart Gottes nicht deutlicher an uns erfahren, ist der, dass wir allzu sehr daran gewöhnt sind, alle Wahrnehmungen von außen her zu erwarten, und dabei kommen sie doch von innen. Wir sind so nach außen hin gewendet und achten so sehr auf die äußeren Eindrücke, dass wir die Berührungen und Stimmen in unserem Inneren gar nicht mehr wahrnehmen. Wir stellen uns vor, dass Gott, wenn Er mit uns spräche, eine stoffliche Stimme haben müsse, die von außen her, durch die Ohren in uns einginge.

 

Und wenn wir doch einmal diese Gegenwart Gottes irgendwie in uns spüren sollten, denken wir, diese Gegenwart wären wir selbst und erkennen Gott nicht in uns. Wenn wir uns selbst finden, uns auf uns selbst konzentrieren, dann tun wir nichts anderen als uns in die Arme Gottes werfen.

 

In all unserem Tun suchen wir diese Umarmung mit Gott, aber irrigerweise, indem wir uns nach außen wenden. Wir hören die unwiderstehliche, betörende Stimme des Geliebten in unserem Inneren und denken, ein Gassenjunge pfeift uns vor unserer Haustür.

 

Gott ist überall, sogar am Broadway, seine Stimme aber hören wir nur in der Stille.

 

aus: „Das Buch von der Liebe“, GTB Ueberreuter