Erfüllte Zeit

11. 01. 2004, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

Hildegard von Bingen

„Der erste Monat“

 

Im ersten Monate erhebt die Sonne sich wieder. Doch zeigt er sich kalt und feucht, voll Widerspruch und schwitzt das in weißen Schnee verwandelte Wasser aus. Seine Eigenschaften gleichen dem Gehirn. Auch dieses ist kalt und feucht und reinigt sich, indem es die wertlosen Säfte durch Augen, Ohren und Nase auswirft. So wirkt auch die Seele voller Freude in der Kindheit  des Menschen, jener Zeit, die noch keine Arglist kennt und die fleischliche Lust nicht spürt. Noch wird sie ja nicht genötigt, wider die eigene Natur zu handeln. In solcher Kinderzeit, deren Wunschleben so einfältig und unschuldig erscheint, zeigt sich die Seele in ihrer ganzen Kraft. Aber schon bald muss sie die reine Freude kindlicher Unschuld entbehren. Einem heimatvertriebenen Fremdlinge gleich wird sie in große Traurigkeit gestürzt. Das ist das Alter, wo die körperlichen Säfte im Menschen zunehmen. Da wird der Mensch durch die Fleischeslust befleckt, liebt die Leichtfertigkeit, vergisst Gott darüber, ergötzt sich an den Gelagen der Sünder und hat Freude an ihrem Treiben. Wie aber die Sonne sich im ersten Monat wieder erhebt, so ist auch die Seele in diesem frühen Lebensalter nicht verstockt und nicht  völlig verdunkelt. Doch besteht die Gefahr, dass bei solchem Tun in sündiger Lust der Mensch in seiner wankelmütigen Gesinnung nach und nach in eine innere Verhärtung von Schmutz und Eitelkeit kommt, zumal ihm die Heiligkeit des rechten Tuns fehlt. Wenn dann dieser Mensch durch Belehrung und durch die Ermahnung des Heiligen Geistes Tränen der Reue vergießt, wird er gereinigt vom Gestank der Sünde und zum süßen Duft des guten Rufes kommen. Er meidet Unkenntnis und Widerwillen an guten Werken und wird so gereinigt.