Erfüllte Zeit

11. 01. 2004, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

Lukas 3, 15 – 16. 21 – 22

von Pater Gustav Schörghofer SJ

 

Der Löwe hatte die Maus in die Enge getrieben. Schon hob er seine riesige Tatze. „Es ist aus mit dir, Maus“, knurrte er, „lange genug hast du mich geärgert.“ „Bitte lass mich noch am Leben, Löwe“, piepste die Maus in höchster Angst, „ich will dich ganz bestimmt nicht mehr ärgern – und vielleicht kann ich dir eines Tages sogar helfen.“ „Du mir helfen“, antwortete der Löwe verächtlich, „mir, dem König der Tiere, dem Mächtigsten und Stärksten willst du kleines Mäuslein helfen? Was bildest du dir bloß ein?“ Doch weil ihm die Maus zu gering erschien, um sich mit ihr ernsthaft zu beschäftigen, ließ sie der Löwe laufen.

Wenige Tage später war er im Netz eines Jägers gefangen. Mit all seiner Kraft hatte er an den Stricken gezerrt, alles vergeblich. Da kam die Maus vorbei. Und ohne viel Worte zu verlieren machte sie sich daran, einen Strick des Netzes nach dem anderen mit ihren scharfen kleinen Zähnen durchzunagen. Schließlich, nach langer Mühe, war das Loch groß genug für den Löwen. Nun stand er vor der Maus, riesengroß, majestätisch. „Danke, Maus“, sagte er, „du hast mir die Freiheit geschenkt.“

 

Diese Erzählung weist auf etwas hin: Es kommt der Moment, wo die Großen entdecken, dass sie durch die Gnade der Kleinen leben.

 

Jesus war stark, er hatte ganz besondere Fähigkeiten. Wenn sich ihm die Menschen aber nicht anvertrauten, konnte er nichts tun. Gott ist mächtig, allmächtig. Wenn sich ihm die Menschen aber nicht anvertrauen, was vermag er mit seiner Allmacht? Die Frage ist heute nicht mehr: Wie ist mir Gott gnädig? Sondern: Bin ich Gott gnädig? Vertraue ich mich ihm an? Aber was soll das heißen, sich Gott anvertrauen, ihm gnädig sein?

 

Im heutigen Evangelium wird von der Taufe Jesu berichtet. Es ist von einer Stimme aus dem Himmel die Rede. Da wird gesagt: Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Gefallen gefunden. Lassen wir einmal den Himmel. Und lassen wir diese Stimme. Was hat denn Jesus getan, bevor das geschah? Welche Voraussetzung hat er geschaffen, dass es geschehen konnte? Er hat sich zusammen mit dem ganzen Volk taufen lassen. Das heißt, er hat sich hineingestellt in diese Gemeinschaft von Menschen, mit all ihren Schwächen, ihren Abgründen und all ihren Flachheiten, mit ihren Ängsten, Nöten, Sorgen und mit ihren Freuden, ihren Hoffnungen. Er hat sich auf eine Ebene mit ihnen begeben. Eben dorthin, wo die Menschen Gott gnädig waren, wo sie ihm die Ehre erwiesen haben. Dort, eben dort, geschieht etwas. Dort wird Gott die Freiheit geschenkt, dass sich Gott zeigen kann. 

 

Seit einigen Wochen sind hoch droben am Südturm des Wiener Stephansdomes zwei riesige Plakate angebracht. Auf dem einen ist zu lesen: Kein Haus ist für die Ewigkeit gebaut. Auf dem anderen: Nur einer versteht ihre Sorgen besser als wir. Das sind, denkt man sich zuerst, ja ganz kirchliche Sprüche. Den Dingen, dem Leben in aller Hinfälligkeit Bestand zu verleihen und den Menschen in ihren Sorgen nahe zu sein, das hat ja immer schon zu den zentralen Anliegen der Kirche gehört. Die beiden Plakate werben aber nicht für die Kirche. Sie werben für eine Bank und eine Versicherung. Von der Höhe des Stephansdoms wird verkündet: Die Kirche Wiens hat die Sorge um die Menschen nun an eine Bank und an eine Versicherung delegiert. Die Plakate verkünden aus der Höhe: Hier wird nicht mehr auf das Vertrauen in Gott gesetzt, sondern auf die Professionalität erfahrener Institute.

 

Wenn keine Stimme Gottes mehr zu hören ist und leeres Gerede den Raum erfüllt, wen wird das unter diesen Umständen wundern? Wenn die Kirche ihren Zauber verliert und nichts mehr bleibt vom Klang einer wunderbaren Gegenwart?

 

Gott ist uns nahe. Näher, als wir es zu ahnen vermögen. Aber wenn wir ihm nicht gnädig sind, wenn wir uns ihm nicht anvertrauen, wird er nicht in Erscheinung treten. Er ist auf unsere Hilfe angewiesen.