Erfüllte Zeit

08. 02. 2004, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

Leonardo Boff, Gott erfahren - Die Transparenz der Dinge

 

Als Erklärung für etwas oder auch als eigenes Thema taucht Gott in der wissenschaftlich- technischen Welt nirgendwo auf. Hier ist er absolut nirgends zu finden. Er ist ins Exil gegangen, hat sich voll und ganz zurückgezogen. 

 

Gleichwohl ist der geheimnisvolle Gott in der technisch-wissenschaftlichen Welt durchaus präsent; nur verborgen, vergessen, verschwiegen. Doch dass keiner von ihm spricht, heißt nicht, er sei nicht anwesend und man könne von ihm absehen. 

 

Er ist da in der Scham des Schweigens. Gott ist wie die Wurzel eines Baumes. Wir sehen den Baum, bewundern seine Krone, essen von seinem Obst und untersuchen, was ihn besonders charakterisiert. Was oberhalb der Erde allerdings nicht zu sehen ist, ist das Wurzelwerk, und das verleiht ihm Kraft und Leben. Die Wurzel ist auf den ersten Blick nicht zu sehen. Sie verbirgt sich im Schweigen der Erde. 

 

Wer vom Obst des besagten Baumes isst oder sich im Schatten seiner Zweige ausruht, denkt kaum an seine Wurzeln - aber sie spenden Saft und mit dem Saft das Leben. Gott ist die Wurzel und der verborgene Saft. Gott ist wie die Sonne, die außerhalb des Hauses scheint. 

 

Aus dem sonnenerhellten Zimmer schauen wir nicht nach der Sonne. Betrachten wir dort im Licht der Sonne einen Gegenstand, tun unsere Arbeit und bewegen uns, denken wir kaum an die Sonne. Wir vergessen die Sonne, und keiner redet von ihr. 

 

Gleichwohl scheint sie über dem nicht weniger, der sie mehr oder minder vergisst, als über dem, der ständig an sie denkt und fortwährend von ihr spricht. So erscheint auch Gott in der technisch- wissenschaftlichen Welt: verborgen, vergessen und verschwiegen. Doch wie die Sonne ist er da und ist für den Willen, zu wissen und zu können, Stärke und Leben.

 

 

Aus: Leonardo Boff, Gott erfahren, Die Transparenz der Dinge, Patmos Verlag , 2004