Erfüllte Zeit

06. 06. 2004, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

Aus: Karl Obermayer-

 „Zurück zur reinen Quelle“ – Zen-Einsichten und Kalligraphien, Theseus-Verlag

 

Wer bin ich? Wer bin ich im Grunde meines Wesens? Wer bin ich, wenn ich all das weglasse, was meine Erziehung, meine Bildung ausmacht, und alles, was sich angehäuft hat? Was ist der Kern meines Daseins? Und die Erfahrung ist immer wieder, dass diese Entdeckung des eigenen Selbst zugleich die Entdeckung des letzten Unendlichen ist. So sind auch die christlichen Mystiker überzeugt, dass wir Gott erfahren, wenn wir uns selbst in unserem Grunde erfahren. Ein Satz von Meister Eckhart verdeutlicht das: „Da ist Gott mein Grund, und mein Grund Gottes Grund“.

Das ist aber für unser Denken unmöglich zu begreifen, weil wir zu sehr in Dualismen denken,  in Gegensätzen. Wir sehen die Welt als etwas, das uns gegenüber steht, nehmen uns als isoliert vom ganzen Kosmos wahr, und so sehen wir auch Gott.

 

So wie wir sagen, dass wir in einer Einheit mit allem, was ist, existieren, in einer unabdingbaren Einheit, so können wir uns davon auch nicht abschneiden. Ich kann nicht unabhängig existieren, ich brauche die Luft zum Atmen, ich brauche all das, ich bin in diesen Kosmos integriert. So erfahren auch die Mystiker aller Richtungen, dass Gott nicht etwas oder jemand ist – manchmal wird Gott eher personal, manchmal eher transpersonal aufgefasst - , der irgendwo weit weg, außerhalb von mir ist, mir gegenüber, den ich im Außen suchen muss. Ich muss ihn in mir finden, Gott ist in mir. So sagt schon Paulus: „Wisst ihr nicht, dass ihr ein Tempel Gottes seid und der Geist Gottes ein euch wohnt?“ Wir haben in unserer christlichen Tradition durchaus die Impulse, die letzte Wirklichkeit in uns selbst zu finden.