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Erfüllte Zeit10. 06. 2004, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1
Lin Jaldati: Begegnung mit Anne Frank
Meine
Schwester und ich gingen auf eine kleine Anhöhe, dort war ein
Wasserhahn, wir hatten uns seit Tagen nicht mehr waschen können. Da
kamen uns zwei magere, kahl geschorene Gestalten entgegen. Wir lagen
uns in den Armen und weinten. Es waren Margot und Anne Frank. Im
Zelt krochen wir vier zusammen unter unsere Decken, um einander zu wärmen,
aber wir wurden nicht warm, denn es regnete viel. Eines Tages
bekamen wir ein extra Stückchen Harzer Käse. Es war Weihnachten.
Wir waren drei holländische Schwesternpaare zusammen und wollten
Sankt Niklas, Chanuka (das jüdische Lichterfest) und Weihnachten
auf unsere Weise „feiern“. Meine Schwester hatte
Kartoffelschalen „organisiert“, das heißt, hinter der SS-Küche
unter Lebensgefahr weggeholt, Anne hatte ein Stückchen Knoblauch
aufgegabelt, die Schwestern Daniels hatten irgendwoher eine robe Rübe
und eine Mohrrübe ergattert. Ich hatte in einem Block vor Blockältesten
Lieder gesungen und einen Walzer von Chopin - die Melodie sang ich
dazu - getanzt, dafür hatte ich eine Handvoll Sauerkraut bekommen.
Von unseren sechs Decken improvisierten wir einen Tisch. Wir hatten
unser bisschen Brot vom Munde gespart und jede von uns hatte für
die anderen mit diesem Brot kleine Überraschungen vorbereitet. So
feierten wir. Wir haben leise holländische Lieder gesungen, ich
sang jiddische Lieder, wir haben uns Geschichten erzählt und uns
ausgemalt, was wir alles tun würden, wenn wir wieder nach Hause zurückkommen.
„Dann werden wir in einem der teuersten Restaurants von Amsterdam
ein Festessen machen“, sagte Anne. Und wir stellten schon das Menü
zusammen, lauter herrliche Sachen.
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