Erfüllte Zeit

25. 07. 2004, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

Aus: Anjali und R. Sriram:

„Yoga und Gefühle – Mit allen Sinnen leben“,

Theseus-Verlag

 

Ein armer Mann hatte einst eine schlechte Tat begangen. Er beschloss, mit einer Bettelschale und einem Stab zur Mutter Ganga zu pilgern und sich an ihren Ufern reinzuwaschen. Nach tagelangen Wanderungen kam er an einen kleinen Fluss und rief freudig: „O Mutter Ganga, ich bin zu dir gekommen, um mich von meinen Sünden reinzuwaschen!“ Jeden Tag badete er mit Inbrunst und büßte seine Schuld mit Gebeten. Eines Tages kam ein berühmter Asket vorbei, der den Mann eine Weile beobachtete und ihn dann auslachte: „Was redest du dieses Rinnsal mit Mutter Ganga an, verschwende deine Zeit nicht an einem nutzlosen Fluss, geh doch zur Ganga, sie ist weit von hier!“ O, dachte der einfältige Mann, dies ist nicht die Ganga, und nahm den Stab und die Bettelschale und machte sich erneut auf die Wanderschaft. Er kam zu einem mächtigen Fluss. „O Mutter Ganga, wie schön du bist“ rief er. Wieder begann er täglich zu baden und sich zu reinigen. Erneut kam ein mächtiger Asket vorbei, sah ihn und rief ihm zu: „Was verschwendest du deine Zeit hier, wenn es doch die Ganga gibt, die weit von hier fließt!“ Wieder machte er sich auf die Wanderschaft. So besuchte er zahllose Flüsse. Weil sie immer größer wurden, dachte er jedes Mal, er habe die Ganga nun erreicht, und fühlte sich glücklich. Bis schließlich ein Asket kam und ihm die Täuschung nahm. Alt und sterbenskrank geworden, kroch er auf einen Hügel und erblickte vor sich die Mutter Ganga. Sein Herz brach und er starb, ohne je die Ganga erreicht und in ihr bebadet zu haben.

In der Unterwelt angekommen, frage Yama, der Todesgott: „Was liegt gegen ihn vor?“ „Er hat eine Sünde begangen, sie aber in der Ganga gesühnt“, sprach Chitragupta, der Buchhalter von Yama. „Herr, ihr irrt“, rief der einfältige Mann, „ich habe die Ganga nie erreicht!“

Da lächelte Yama und sprach: „Wenn ein Mensch aufrichtig fühlt und denkt und sein Streben in eine Richtung geht, ist es nicht wichtig, ob er das, nach dem er strebt, auch erreicht. Das Streben ist genug, um ihn von allen Sünden zu befreien. Seine Liebe zur Ganga und sein ehrliches Vertrauen in ihre Kraft machen alles andere unwichtig.“