Erfüllte Zeit

05. 09. 2004, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

Aus: Alfons Rosenberg, Christliche Bildmeditation, München 1975

 

Das Sehen aber, sowohl das Sehen Gottes wie das der Welt, beruht auf dem Vermögen des Auges, nicht nur Dingliches, sondern auch Seelisches und Geistiges wahrzunehmen. „‚Sehen’ ist Begegnung mit der Wirklichkeit. Denn die Welt ist mehr als nur ‚Welt’, jedes Ding mehr als nur ‚Ding’ und das Menschenauge mehr als nur physio-psychologisches Organ.“ (Guardini). Das Auge ist vielmehr das Instrument einer Weltverwandlung – es wandelt die dingliche Erscheinung zu unzerstörbarer Sinngestalt, in geistige Bilder.

Das Auge fasst in den von ihm ergriffenen Bildern der Wirklichkeit die Fülle der Gegensätze und des Widersprüchlichen – es bildet aus dem Vielgestaltigen die Einheit. Wegen dieser seiner zentrierenden erleuchtenden Kraft ist es ein wichtiges Organ der Meditation.

Mit Bild ist nicht in erster Linie das Abbild, sondern das Urbild gemeint, oder doch die Nachbildung eines Urbildes. Bildwerdung ist gleichsam das Hervortreten der im Unsichtbaren wirkenden Geistmacht in die Sichtbarkeit – jener geheimnisvolle Vorgang, in dem sich Geistiges mit Sinnlichem zu einer Gestalt verbindet.

Darum ist jedes Bild mehr als ein von den Augen hervorgerufenes Phantom, vielmehr in jedem Falle – mag es sich um ein erhabenes Kultbild oder nur um ein Reklamebildchen handeln – ein Sinn-Bild. Denn jedes Bild leitet seinen Beschauer von seiner sinnlichen „Haut“ in die geistige Tiefe, aus der es aufgestiegen. Bilden heißt demnach Wirklichkeit schaffen oder auch eine bereits vorgefundene in eine solche höherer Ordnung umbilden. Der Mensch vollendet sich durch Umbildung, indem er die Bilder niederen Grades und Wertes in solche hohen, ja des höchsten Wertes wandelt, indem er sich allmählich der selbstgemachten Weltbilder begibt und Gottes Bildnis, auf das seine Natur von Anfang an hingeordnet ist, sich einbildet. „Ein gelassener Mensch muss entbildet werden von der Kreatur (das Bild der Kreatur, in dem er steht, abstreifen), gebildet werden mit Christo (in das Bild Christi verwandelt werden) und überbildet in der Gottheit.“ (Seuse)