Erfüllte Zeit

12. 09. 2004, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

Pater Gustav Schörghofer SJ

Lukas 15, 1 – 32

 

Die Geschichte des Vaters mit den beiden Söhnen ist berühmt, eine der großen Erzählungen der Bibel. Sie ist immer und immer wieder erzählt und in Bildern dargestellt worden. Meistens wurde dabei der eine Sohn, der ältere, weggelassen. Die ganze Aufmerksamkeit galt dem reumütig heimgekehrten Sünder und dem barmherzigen Vater. Im Evangelium aber wird noch anderes erzählt. Da fallen schwere Schatten auf das Fest und ein unheimlicher Zorn macht sich breit. Ein zweites Mal tritt der Vater über die Schwelle seines Hauses, geht dem, der draußen ist, entgegen. Während aber der jüngere Sohn in den Armen des Vaters verstummt ist, bricht aus dem älteren angesichts des Vaters ein Wortschwall hervor. Der Vater antwortet. Wie die Sache ausgeht, bleibt aber offen. Und dieses Offene der Geschichte, dieses Schweigen am Schluss, hat etwas Unheimliches. Hier wird nicht nur von drei Männern in ferner Vorzeit erzählt, sondern von Gegenwart. Es ist meine Geschichte. Und die Geschichte einer jeden, eines jeden von uns. Die alte Geschichte von Kain und Abel.

 

Der ältere Bruder begeht einen Mord. Rufmord. Er macht seinen Bruder nieder. Er dichtet ihm Vergehen an, von denen nie zuvor die Rede war. Er macht dem Vater einen Vorwurf daraus, dass er diesem üblen, verkommenen Subjekt den Vorzug gibt vor ihm, dem braven Sohn, der alle Anordnungen stets befolgt, der nie gegen die Konventionen verstoßen, der sich immer korrekt verhalten hat. Er macht auch den Vater nieder und dichtet ihm eine Enge und Knauserigkeit an, die durch nichts in der Erzählung belegt wird. In seinem Zorn erklärt der ältere Sohn seiner Umwelt den Krieg. Es ist der Krieg des Gerechten gegen die Ungerechtigkeit, der Krieg des Anständigen gegen die Unanständigkeit.

Noch einmal ist die Stimme des Vaters zu hören. Der engen Welt des Sohnes begegnet die Weite des Vaters, seine Anerkennung des anderen. Der Vater hat die Gabe, vom anderen groß zu denken. Er mutet ihm zu, ganz anders zu sein, als er zu sein scheint. Er hat den schöpferischen Blick, der in jedem der beiden Söhne etwas Großes sieht. So sehr sie sich auch von allem unterscheiden mögen, was er sich je unter einem Sohn vorgestellt hat, er sieht in ihnen etwas Außerordentliches. Er erinnert den Älteren an seine Würde als Sohn und Erbe, er erinnert ihn daran, dass er einen Bruder hat. Den Jüngeren setzt er von neuem ein in die Würde eines freien Mannes, eines Herrn. Gewand, Ring und Schuhe weisen darauf hin. Er macht ein Fest, zu dem sie alle eingeladen sind.

 

Die Geschichte wird nicht weitererzählt. Sie endet im Schweigen. Sie stellt an mich eine Frage: Bin ich bereit anzunehmen, dass der andere völlig anders sein kann, als ich mir das vorstelle? Dass er besser ist, größer als ich mir das vorstelle? Bin ich bereit, den anderen dieser Größe, dieser Würde entsprechend zu behandeln? Ich kann dem anderen die Chance geben, ganz anders zu sein, als ich mir das auszudenken vermag. Ich kann ihm die Chance geben, alle meine Vorstellungen von Anständigkeit und Konvention zu durchbrechen und auf eine mir bisher völlig fremde Weise Würde, Schönheit, Reinheit zu zeigen.

 

Der Gott Jesu Christi, jener Gott, der in Jesus Christus sichtbar wird, ist ein Gott des Entgegenkommens. Er wirbt um den Menschen. Er wirbt um ihn, indem er ihn einsetzt in eine ursprüngliche Würde. Er gibt dem Menschen die Chance, anders zu sein als er zu sein scheint. Größer, würdiger, schöner, weitherziger, freier. In einem vieldeutigen Verhalten – und was lässt nicht das Verhalten des jüngeren Sohnes alles an Deutungen zu – entdeckt er die Hinweise auf Vertrauen, auf Hingabe, die nicht wieder den eigenen Vorteil sucht. Gott ist es, der den Glauben in uns entdeckt, der um ihn wirbt, ihn wachruft. So macht er uns fähig, staunend die Augen zu öffnen und zum Bewusstsein der eigenen Würde zu erwachen. Und staunend die Würde des anderen zu erkennen. Erst dann wird dem Morden, dem Krieg ein Ende gesetzt. Aber dieser Teil der Geschichte wird im Gleichnis nicht mehr erzählt. Es liegt an mir, an Ihnen, an uns, dem Entgegenkommen Gottes eine Chance zu geben und selber dem anderen entgegenzugehen. Auch wenn sein Verhalten meinen Vorstellungen gar nicht entspricht. Er ist größer als meine Vorstellungen. Und besser als meine Vorstellungen.