Erfüllte Zeit

26. 09. 2004, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

Luis Lintner

 

Die Botschaft vom Kreuz ist eine einzige Provokation. Dieser Gott auf der Seite der Ohnmächtigen – das hat Konsequenzen: In Zeiten der Redeinflation und der Träume von Selbsterlösung durch esoterische Praktiken oder durch Geld und wissenschaftlichen Fortschritt ist es nicht immer einfach, an Gott zu glauben. Gerade deshalb aber tut es Not, direkter von Gott zu reden, dem wir uns verdankt wissen und dessen Liebestat am Kreuz der Menschheit Hoffnung gibt und eine menschliche Zukunft garantiert. In Zeiten des Sich-Leisten-Könnens und der unverblümten Machtdemonstrationen brauchen wir den Mut, von Gott zu zeugen, indem wir uns der zu kurz Gekommenen und der Ohnmächtigen erinnern. Denn in ihnen ist Christus heute gekreuzigt, tausendfach in unseren Breitengraden, millionenfach in der so genannten Dritten Welt. Bei diesen Gekreuzigten der Geschichte müssen wir ihn suchen und bezeugen. Ich möchte euch zwei Beispiele aus meinem jetzigen Erfahrungsbereich erzählen.

 

Einmal von Padre Josimo Tavares Morais. Er lebte im Norden Brasiliens, wo die Großgrundbesitzer gegen die Kleinbauern vorgingen. Der Einsatz von Padre Josimo war ihnen ein Dorn im Auge. Padre Josimo organisierte die Kleinbauern, wurde bedroht, doch er hielt durch, da schickte man ihm einen Pistolenmann: Mord. Dieser junge Mensch hatte den Mut, bei den Gekreuzigten zu bleiben und wurde selbst zum Gekreuzigten. Dann ist da Eleníca, eine kleine und raue Frau. Sie lebt mit ihren drei Kindern in einer schäbigen Hütte. Da nimmt sie auch noch die schwangere Lúcia zu sich, sie teilt das einzige Ei unter allen auf. Doch mein „Ärger“ mit ihr ist, dass sie nicht in die Kirche geht. Ich muss gestehen: Ich predige, was sie tut, bin aber nicht imstande zu tun, was ich predige. In so einer Frau ist Christus nicht nur gekreuzigt, sondern auch auferstanden!

 

Kehren wir zurück zu uns. Heute ist viel die Rede vom globalen Dorf. „Dorf“ hat früher bedeutet, dass jeder zu leben hatte! Im Weltdorf heute müssen wir also lernen, die Solidarität zu globalisieren, lernen, uns Grenzen zu setzen, damit andere ihre Grenzen hinausschieben können, die Grenzen des Hungertodes, der Auslandsschulden, des Drogenhandels, des Analphabetismus...

 

Wir verkünden Christus als den Gekreuzigten, das heißt, dass wir helfen sollen, die Gekreuzigten unserer Zeit vom Kreuz zu nehmen – auch auf die Gefahr hin, selbst zu Gekreuzigten zu werden.

 

 

Der Südtiroler Priester Luis Lintner arbeitete von 1980 bis 1991 in einem Dorf im Nordosten Brasiliens, in der Diözese Barreiras, und dann bis 2002 in den Favelas von Salvador de Bahia. Er setzte sich zeitlebens für die Armen ein und lebte als Armer unter Armen. Er erhob die Stimme gegen die Todesschwadrone, die in den brasilianischen Elendsvierteln Straßenkinder und Jugendliche, die auf der Straße leben, gegen Kopfgeld liquidieren. Am 16. Mai 2002 wurde Luis Lintner vor seinem Pfarrhaus ermordet, vermutlich von der Drogenmafia, der sein Einsatz für die Kinder und Jugendlichen ein Dorn im Auge war.

 

Aus: M. Lintner/christl Hauger Fink/Francesco Comina „...weil das Leben siegen wird – Luis Lintner: Mystiker – Kämpfer – Märtyrer“, Verlagsanstalt Athesia Bozen