Erfüllte Zeit

01. 11. 2004, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

„Auf der Suche nach dem Sinn“

 

Wenn uns ein Gut fehlt, dann haben wir oft den Eindruck, sein Besitz würde uns das Glück bescheren. Tatsächlich zeigt uns das Fehlen bestimmter lebensnotwendiger Güter, dass wir uns in der Welt nicht zurechtfinden. Wir fühlen uns verloren, desorientiert. Unser Leben hat keinen Sinn.

 

Aber selbst wenn man alle möglichen Güter besitzt, kann einen das gleiche Gefühl befallen. Wozu all dieser Besitz? Wer sind wir? Die Unruhe hat lediglich eine andere Ebene erreicht. Was wir bräuchten, wäre ein endgültiges Wort, das uns die Sicherheit geben könnte: „Du wirst geliebt, unabhängig von dem, was du hast, was du schaffst, einfach bedingungslos, um deiner selbst willen“.

 

Die Bibel übersetzt diese Suche: Eine herumirrende, desorientierte Gruppe sucht ein Land, wo sie endlich „zu Hause“ sein kann. Nachdem sie es erobert hat, glaubt sie, eine adäquate politische Macht könne ihr den ersehnten Frieden sichern, aber die Geschichte offenbart ihr ihren Trugschluss. Die Religion? Vergeblich baut man sich einen Tempel, wenn die Rituale leer sind. Das Gesetz? Es wird zur erdrückenden moralischen Ordnung, wenn es ohne Herz gemacht wurde. Die menschliche Liebe? Immer schwierig und zerbrechlich! Man versteht den Verzweiflungsschrei des Weisen aus dem Buch Kohelet: „Es ist alles umsonst und Jagd nach Wind“.

 

Die christliche Spiritualität hat in diesem verzweifelten Bekenntnis die erste Stufe des wahren Lebens gesehen; sie besteht darin, dass uns unsere Illusionen bewusst werden. Der Sinn kann nicht von außen kommen, sondern nur aus einem tief greifenden Wandel unserer inneren Ausrichtung.

 

Jesus bekräftigt: „Wer dürstet, der komme zu mir und trinke“; und „Ich bin das Leben“. Für ihn ist das „Reich Gottes“ ganz nahe: „Kehrt um und glaubt an die Frohe Botschaft“. Diese ist eine Offenbarung, die den Weisen und Mächtigen entgeht, die aber denen zugänglich ist, die „von Herzen demütig“ sind, denen, die dürsten nach dem einzig Wesentlichen: der Gewissheit, vom Vater geliebt zu werden.

 

Dank dieser Gewissheit war das Leben Jesu ein Leben in Fülle, aber er hat sich auch der Leere stellen können, der Ablehnung durch die Welt, dem Tod. Er lädt uns ein zu dieser Entdeckung, die es uns ermöglicht, eine Orientierung zu finden, einen Sinn. Dieses Vertrauen wird als geheimnisvoller Lichtstrahl uns befähigen, uns selbst zu lieben, weil wir bedingungslos geliebt werden. Durch den Tod unserer Illusionen bedeutet es auch die Öffnung zum anderen und die Erkenntnis des wahren Antlitzes Gottes.

 

Wird die Welt in ihrer jetzigen prekären Situation sich dieser Entdeckung des Wesentlichen öffnen können, indem sie die Frage nach dem Sinn richtig stellt? Falls ja, dann werden wir wahrhaftig leben. Alles andere wird uns dazugegeben werden.

 

Aus: Jacques Gaillot, Alice Gombault, Pierre de Locht „Ein Katechismus, der Freiheit atmet“, Edition K. Haller