Erfüllte Zeit

07. 11. 2004, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

Aurelius Augustinus

 

Was ist es, Herr, was ich sagen will, als dass ich nicht weiß, woher ich daher gekommen bin in dieses – soll ich sagen Sterbeleben oder Lebesterben? Ich weiß es nicht.

 

Es empfingen mich die Wohltaten der menschlichen Milch, und nicht meine Mutter und nicht meine Ammen füllten sich die Brüste, sondern Du gabst mir durch sie die Nahrung des Säuglings nach Deiner Ordnung aus dem bis in der Dinge Tiefen angelegten Reichtum.

 

Alles kommt doch aus Dir, Gott, jeglich Gut, und aus meinem Gott mir alles Heil. Das habe ich später erst verstanden, als Du mir riefest durch jenes alles, was Du darreichst innen und außen. Denn damals wusst ich nur zu saugen und wohlig mich im Genuss zu stillen, aber zu weinen nur im Missbehagen meines Fleisches – sonst nichts.

 

Danach begann ich auch zu lächeln, zuerst im Schlafe, dann im Wachen. So ist mir wenigstens über mich berichtet worden, denn mein Damals ist mir nicht im Gedächtnis. Und nun so allgemach empfand ich, wo ich war, und ich verlangte, mein Verlangen denen beizubringen, die es erfüllen sollten. Also rührte ich mich kräftig mit meinen Gliedern und mit Schreien, den Zeichen für mein Begehren.

Und jetzt ist meine Kindheit längst gestorben, und ich, ich lebe. Du aber, Herr, welcher Du immer lebst, in welchem nichts stirbt – denn vor der Zeiten Anfang und vor jeglichem bist Du, und bist Gott und der Herr von allem, was Du erschaffen, sage mir, Gott, Deinem Flehenden, sag es, Erbarmer, Deinem Armen, ob mir nicht irgendein Leben schon verlebt war, auf welches mein Kindesanfang erst folgte. Oder ist’s jenes, das ich hinbrachte in den Eingeweiden meiner Mutter? Denn auch über jenes ist mir manches gesagt worden, und schwangere Frauen hab ich selbst gesehen. Was aber war noch vor dieser Zeit, meine Wonne, mein Gott? War ich da irgendwo, und war ich irgendwer?

 

(Aus: Aurelius Augustinus „Bekenntnisse. Erstes Buch“, Insel-Verlag)