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Erfüllte Zeit14. 11. 2004, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1
Die Bibel ist nicht vom Himmel
gefallen. Sie ist vielmehr eine Sammlung von Texten, die in einem
Zeitraum von rund tausend Jahren entstanden - das Alte Testament
zwischen 900 und 100 v. Chr., das Neue Testament zwischen 50 und 150
n. Chr. Es waren Menschen aus Fleisch und Blut, die an der
Entstehung der Bibel direkt oder indirekt mitwirkten –
„Konservative" und „Progressive", Alte und Junge, Männer
und Frauen, Gebildete und Ungebildete, Sensationslüsterne und auf Nüchternheit
Bedachte, in ihrem Glauben Angefochtene und felsenfest Glaubende.
Die biblischen Schriftsteller hatten nicht nur Freunde, sondern auch
Gegner, es gab nicht nur Sympathisanten, sondern auch solche, die
ihnen Steine in den Weg legten. Die Verfasser waren Menschen, die
ganz bestimmte Ideen und Ziele verfolgten, die ihre
Lieblingsvorstellungen und „Leitmotive“ besaßen - Menschen, die
in ihrem Wissen und Denken begrenzt und eingeschränkt waren. Sie
werden gründlich darüber nachgedacht haben, was sie schriftlich
fixieren wollten. Lebendiger Gedankenaustausch und lebhafte
Diskussionen, Beifall und Ablehnung, vielleicht auch Schmähungen
und Anfeindungen begleiteten ihre Arbeit. Interessenkonflikte und
Meinungsverschiedenheiten mussten bewältigt werden. Konkrete
Ereignisse und Probleme des Alltags, Konflikte in den Gemeinden,
existentielle Krisen der Autoren und ihrer Adressaten verlangten
nach Deutung, nach konkreter Antwort und Lösung im Licht ihrer
Glaubensvorstellungen. Darum
bietet die Bibel eine breite Palette von Figuren, die dem
menschlich-allzumenschlichen Alltag entnommen sind. Wer die Bibel
durchstöbert, trifft auf die unterschiedlichsten Charaktere - auf
Helden und Heilige, aber auch auf Schufte und Schurken. Er begegnet
Königen und Kriegsherren, aber auch Flüchtlingen und Bettlern. Er
lernt vorbildliche Familienväter und -mütter kennen, aber auch
Ehebrecher und Mörder. Er erlebt Weise und Gelehrte, aber auch
stupide Dummköpfe und verbohrte Ideologen. Manches wirkt wie ein
groteskes Welttheater. Und manch einer hat wohl seine liebe Not,
darin eine von Gott inszenierte (und freilich von Menschen
gespielte) "Heilsgeschichte" zu erkennen. (Aus: Norbert Scholl „Die Bibel
verstehen“, Primus-Verlag)
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