Erfüllte Zeit

21. 11. 2004, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

„Kinder in der Welt der Mystik“

 

Ein zwölfjähriges Mädchen hatte eines Tages, „als sie allein war“, das Gefühl, dass sie „vom Heiligen Geist angeredet wurde. Diese Überaus innige Anrede, der Gruß Gottes, kam alle Tage ... und verstärkte sich alle Tage“. Zeit ihres Lebens wird sie als Erwachsene betonen, dass Gott selbst von diesem Zeitpunkt an ihr spiritueller Lehrmeister war. Das Mädchen wurde Nonne und eine berühmte Mystikerin und Poetin. Ihr Name: Mechthild von Magdeburg, geboren 1207.

 

Manchmal spüren Eltern etwas von der besonderen „Aura“, die ihre Kinder umgibt. Eine französische Mutter notierte diskret in ihren Erinnerungen über ihren Sohn: „Wäre ich nicht seine Mutter, könnte ich allerhand Wundersames über seine Kindheit offenbaren. Aber dies kann ich, ohne zu lügen, behaupten, dass mein Sohn von klein auf sein eigener Seelenführer und sein eigener Lehrer in spirituellen Dingen war, ganz in Gottes Liebe geborgen.“ Der Junge war Franz von Sales, einer der liebenswürdigsten Mystiker und Seelsorger des 16. Jahrhunderts.

 

Nun sind nicht alle Kinder Seher. Nicht alle Kinder werden große Visionäre, Dichter, Propheten oder Heilige. Aber alle Kinder sind Mystiker – wenn man sie lässt. Die Mystik ist vielleicht sogar der kindgerechteste Weg zur umfassenden Wirklichkeit, die wir Gott nennen. Man braucht kein Mann, keine Weißer, kein Christ, kein Theologe, kein Mönch, kein Erwachsener zu sein, um eine mystische Erfahrung zu machen.

 

Vielleicht hat Ihre Seele einen dieser „magischen Momente“ gespeichert, weil er kostbar war, ein Stück verdichtete Wirklichkeit, ein Lichtstrahl aus einer anderen Dimension, eine Erfahrung von Größe, von Schrecken, von Hingabe oder von Einheit, die aus der Landschaft Ihrer Kindheitserinnerungen herausragt wie ein hoher Berg. Vielleicht musste Ihre Seele aber auch eine solche Erfahrung „vergessen“, weil es keinen Ort gab, keinen Raum und kein Gegenüber, wo Sie als Kind mit diesen „komischen“ Erfahrungen hätten hingehen können.

 

Mystik ist, wie Dorothee Sölle sagt, die „Geschichte der Gottesliebe“, die sich erlaubt, in ein Menschenleben „einzubrechen“, wann immer es ihr gefällt. Und sie ist die Geschichte der Menschen, die auf diese Offenheit Gottes antworten, indem sie ihr Herz für Gott öffnen. Auch wenn Sie noch nie eine mystische Erfahrung gemacht zu haben meinen: Wenn Sie an dieser Stelle eine Sehnsucht in sich verspüren, einmal Gott so unmittelbar nahe zu sein, dann haben Sie ein Mystikerherz in ihrer Brust. Jesus nannte dieses geheimnisvolle Innesein „das Reich Gottes“ und sah darin unser aller Zuhause.

 

(Aus: Marion Küstenmacher, Hildegard Louis „Mystik für Kinder“, Kösel Verlag)