Erfüllte Zeit

19. 12. 2004, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

Aus: Hans Küng, Denwege, ein Lesebuch hg. von Karl Josef Kuschel

 

Woran glaubt der Christ eigentlich? Jedenfalls nicht an Sätze, auch nicht eigentlich an Wahrheiten (im Plural). Gewiss, Glaubensbekenntnisse, die bestimmte Wahrheiten oder Ereignisse zusammenfassen, können eine Hilfe sein; aber der Christ glaubt nicht „an“ Bekenntnisse. Gewiss, Glaubensdefinitionen, die bestimmte Punkte der christlichen Botschaft gegenüber dem Unchristlichen abgrenzen, sind in extremen Situationen vielleicht unumgänglich; aber der Christ glaubt nicht „an“ Definitionen. Ja, streng genommen glaubt er auch nicht „an“ die Bibel oder „an“ die Tradition oder „an“ die Kirche.

Der Christ (auch der protestantische) glaubt nicht an die Bibel, sondern an den, den sie bezeugt.

Der Christ (auch der orthodoxe) glaubt nicht an die Tradition, sondern an den, den sie überliefert.

Der Christ (auch der katholische) glaubt nicht an die Kirche, sondern an den, den sie verkündet.

Das unbedingt Verlässliche, an das der Mensch sich für Zeit und Ewigkeit halten kann, sind nicht die Bibeltexte und nicht die Kirchenväter und auch nicht ein kirchliches Lehramt, sondern ist Gott selbst, wie er für die Glaubenden durch Jesus Christus gesprochen und gehandelt hat: Die Bibeltexte, die Aussagen der Väter und kirchlicher Autoritäten wollen – in verschiedener Gewichtigkeit – nicht mehr und nicht weniger als Ausdruck dieses Glaubens sein.

Ich glaube also nicht einfach verschiedene Sachverhalte, Wahrheiten, Theorien, Dogmen: Ich glaube nicht das oder jenes. Ich glaube auch nicht nur der Vertrauenswürdigkeit einer Person: Ich glaube nicht einfach diesem oder jenem. Vielmehr wage ich es, mich vertrauensvoll auf eine Botschaft, eine Wahrheit, einen Weg, eine Hoffnung, letztlich auf jemand ganz persönlich einzulassen: Ich glaube „an“ Gott und an den, den er gesandt hat.