Das Evangelische Wort

Sonntag, 04. 11. 2001,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr,

 

 

von Pfarrer Bernd Hof, Innsbruck

 

Im Weisheitsbuch "Jesus Sirach" steht im 38. Kapitel:

Es kann die Sünde kommen, in der dem Kranken allein durch die Hand der Ärzte geholfen wird; denn auch sie werden den Herrn bitten, dass er´s ihnen gelingen lässt, damit es sich mit dem Kranken bessert und er gesund wird und wieder für sich sorgen kann.

 

Eine Frau liegt auf der Intensivstation, angeschlossen an Schläuche und Kabel. Durch einen Plastikschlauch in ihrem Mund drückt die Beatmungsmaschine Luft in ihre Lungen, die Brust hebt und senkt sich. Die Kurven auf dem Bildschirm zeigen: Das Herz schlägt, Puls und Blutdruck sind normal. Aber die Frau ist nicht nur vorübergehend bewusstlos: Im Großhirn, dort, wo sonst Gedanken, Gefühle, Träume ihren Platz haben, dort fließen keine Ströme mehr. Die Frau ist hirntot, sagt der Arzt, ihr Zustand ist irreversibel, sie wird also nach menschlichem Urteil nicht mehr zum Bewusstsein kommen. Wie lange soll die Beatmungsmaschine weiterlaufen? Stunden? Tage? Wochen? Wer soll sie abdrehen? Wie wird der sich nachher fühlen? Ein paar Zimmer weiter liegt ein junger Mann mit Herzbeschwerden. Trotz aller Bemühungen der Ärzte pumpt sein Herz nicht einmal halb so viel Blut durch den Körper, wie es sollte, und es wird immer schwächer. Er wird nach Meinung der Ärzte nicht mehr lange leben – wenn, ja wenn er nicht ein neues Herz bekommt.

 

Medizinisch ist es möglich, der hirntoten Frau das gesunde Herz zu entnehmen und es dem herzkranken Mann einzupflanzen. Er kann damit wahrscheinlich Jahre lang fast wie ein Gesunder leben. Technisch ist es möglich – aber ist es auch richtig?

 

Die Möglichkeiten der modernen Medizin stellen Ärzte, Patienten und Angehörige immer häufiger vor schwere Entscheidungen. Ich finde es gut, dass darüber nicht nur unter Fachleuten, sondern auch in der Öffentlichkeit diskutiert wird. Denn hier geht es nicht nur um Einzelfragen; dahinter stehen die Grundfragen: Was macht den Menschen zum Menschen? Was ist Leben, was Tod? Und die Frage nach unseren Autoritäten und letzten Maßstäben: Wer bestimmt, was gut ist und was schlecht oder gar böse? Früher haben kirchliche Autoritäten diese Fragen für alle beantwortet, und wer sich ihnen nicht beugen wollte, lebte gefährlich. Das ist lange her. Heute behaupten viele im Namen des Fortschritts müsse dieses getan und jenes gelassen werden – aber dahinter stehen oft persönlicher Ehrgeiz oder wirtschaftliche Interessen, habe ich den Eindruck. Als evangelischer Christ bin ich überzeugt: Meine persönliche Verantwortung vor Gott und meinem Gewissen kann mir keine Autorität abnehmen. Umso wichtiger ist für mich das Gespräch mit der Bibel, die für viele seit Generationen Maßstab ist, und die Auseinandersetzung mit anderen Meinungen, auch solchen aus der Vergangenheit.

 

Albert Schweitzer zum Beispiel, der große Arzt und Menschenfreund, hat die Haltung der "Ehrfurcht vor dem Leben" ins Zentrum gerückt, und diese Haltung ist seither zum Ziel für viele Menschen geworden. Dieser Maßstab der Ehrfurcht vor dem Leben ist kein Patentrezept für die Beantwortung aller Fragen, aber er kann doch helfen, gemeinsam eine menschliche Richtung zu finden in einer Zeit, in der das Menschenbild verschwimmt und sich der Materialismus in den Vordergrund schiebt. Denn wenn Krankenhäuser unbedingt Gewinn machen müssen, wird der Spielraum für die Menschlichkeit immer enger.

 

Ich kenne Menschen, die Angst davor haben, ins Krankenhaus zu gehen. Sie sagen: "Ich weiß ja nicht, was die da alles mit mir machen," und meinen: Ich weiß ja nicht, welche Grundsätze dort gelten, und ob ich mich dagegen wehren kann, als Objekt behandelt zu werden. Da ist es eine große Hilfe, wenn Ärzte und Schwestern sich Zeit nehmen für Gespräche mit den Patienten, sodass Vertrauen wachsen kann und deutlich wird. Wir sind uns unserer Verantwortung bewusst, und wir werden gemeinsam auch schwierige Entscheidungen treffen in Ehrfurcht vor deinem Leben.