Das Evangelische Wort

Sonntag, 02. 12. 2001,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr,

 

 

von  Pfr. Lutz Lehmann

 

 

Jesaja 63,19b - 64,3

Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen, wie Feuer Reisig entzündet und wie Feuer Wasser sieden macht, dass dein Name kundwürde unter deinen Feinden und die Völker vor dir zittern müssten, wenn du Furchtbares tust, das wir nicht erwarten - und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen! -und das man von alters her nicht vernommen hat. Kein Ohr hat gehört, kein Auge hat gesehen einen Gott außer dir, der so wohl tut denen, die auf ihn harren.

 

"Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab" - wie oft wünsche ich mir das, dass da einer eingreift, dreinfährt, verändert, was schrecklich ist und grausam in dieser Welt.

 

Wie oft wünsche ich mir, dass da einer käme, stärker und mächtiger als ich, und endlich Ordnung schaffte - so sehr wünsche ich mir das manchmal wie damals als Kind, als ich so gerne einen großen Bruder gehabt hätte, vor dem die hätten zittern müssen, die mich schlugen.

 

Wie gut wäre das, wenn einer käme, der endlich aufräumte mit dem, was uns quält - manchmal, wenn ich mich ganz hilflos fühle, wird die Sehnsucht ganz groß - und wurde noch immer bitter enttäuscht.

 

Aber wie sollte es auch anders sein: die sich als große Herren gebärden in der Welt kochen dann doch letztlich immer an ihrem eigenen Süppchen, sind nun einmal nicht der liebe Gott.

 

"Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab" - Christen glauben, dass das schon geschehen ist - aber ganz anders als im großen Hoffnungsbild des Propheten Jesaja.

 

Hinter dem Wusch nach dem "großen Bruder" stand bei mir damals natürlich auch der Wunsch nach mehr eigener Macht: mich sollten die Bösen respektieren, nicht wagen sollten sie es, mich anzugreifen - fürchten sollten sie mich, wie sie mich gelehrt hatten, sie zu fürchten.

 

Christen sagen: Gott kommt auf die Welt als "kleiner Bruder", vertraut sich wider allen besseren Wissens dem Schutz der Menschen an, wartet auf das Wunder, das geschehen kann, wenn einer seiner selbst wegen geachtet wird und nicht wegen seiner Macht.

 

"Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab" - Hinter dem Wunsch nach dem mächtigen Eingreifen von außen steckt der Wunsch danach, am Ende doch Zuschauer bleiben zu können in dem großen Streit.

 

"Der wird es schon machen" kann man sich dann sagen und die Hände in den Schoß legen.

 

Christen sagen: Gott kommt nicht als Führer sondern als einer, der zum mitgehen einlädt, der dazu aufruft, selbst Verantwortung zu übernehmen und der selbst den, der scheitert auf dem Weg, höher schätzt, als den, der nicht einmal den ersten Schritt zu setzen bereit ist.

 

"Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab" - Unter der Sehnsucht nach dem aufgerissenen Himmel kann die große Trauer begraben sein über einen Gott, der das alles ändern könnte - und er tut es nicht.

 

Die Christen haben diese Sehnsucht nach der großen Veränderung nicht aufgegeben. Aber sie glauben, dass sie schon begonnen hat. Sie glauben daran, dass Gott in der Geburt Jesu die Vorstellungen durchbrochen hat, er säße in einem fernen Himmel, so weit weg von den Sorgen seiner Kinder wie die Reichen von den Armen auf dieser Welt.

 

Der Himmel, das Reich Gottes, sagt Jesus einmal, ist nicht irgendwo, tut sich nicht irgendwann auf, sondern ist mitten unter uns zu finden. So wie Gott uns entgegentritt nicht in den stärksten sondern in den geringsten Schwestern und Brüdern ist auch der Riss im Himmel, die Sicht in das Reich Gottes nicht mit dem Blick nach oben, in der Hoffnung auf Supermächte oder Superhelden zu finden. Der Riss im Himmel gibt uns den Blick frei nach unten, zu denen, die noch hilfloser sind als wir, gibt uns die Chance, mit der großen Veränderung zu beginnen, auf die wir warten, indem wir - wie es Jesaja von Gott selber sagt - "wohl tun denen, die auf den Herrn harren."