Das Evangelische Wort

Sonntag, 09. 12. 2001,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr,

 

 

 

von Barbara Knittel

 

"Wahr ist's, ich sage euch: Wenn ihr euch nicht umwendet und wie die Kinder werdet, kommt ihr nimmermehr ins Königtum der Himmel"

 

Wenn ich die Bilder sehe, von den bedrohlichen Auseinandersetzungen zwischen den Palästinensern und den Israelis, und wenn ich die Zeitungsüberschriften lese, wie da neulich stand – Kandahar wurde sturmreif gebombt –fallen mir die Kinder ein, die mit betroffen sind. Man sieht und hört wenig von ihnen. Vielleicht deshalb, weil das viele Menschen doch tiefer anrühren würde , - das Leid der Kinder, - und das scheint zur Zeit in der Politik der Mächtigen nicht sehr gefragt.

 

Dazu geht mir der Traum einer Freundin nicht aus dem Kopf. In ihrem Traum hat sie ein ihr vertrautes Bildungszentrum gesehen, in dem Erwachsene aus und ein gehen. Mitten in dem Areal ragt ein Turm auf, verglast, hoch, ähnlich einem der Twin Towers. Darin sind Kinder, viele Kinder. Von außen ist der Turm nicht zugänglich. Die Kinder sind ausgesperrt von der Bildungswelt der Erwachsenen und zugleich eingesperrt. Der Träumerin ist klar, dass die Kinder darin umkommen müssen und sie sieht hinter dem Glasfenster auch ein totes Kind, ganz filigran mit seinem kleinen Körper.

 

Mir ist, als ob meine Freundin diesen Traum auch für mich geträumt hat, vielleicht für viele, zumindest für alle, die sich in den letzten Wochen die bange Frage gestellt haben - wie ist das mit den Kindern, deren Bilder wir zur Zeit nicht oder kaum sehen. Mit den Kindern in Afghanistan, den Kindern in Palästina und Israel, den vielen gepeinigten Kindern, auch anderswo.

 

Ich selbst bin auch noch im Krieg geboren und wenn ich z. B. von der Kriegssituation in Afghanistan höre, tauchen Stimmungen und Erinnerungen auf. Aber da bin ich nicht allein. In unserem Land leben noch viele Kriegskinder und auch die Nachkommen dieser Kriegskinder. Sicher, für viele ist das ein vergessenes Kapitel ihrer Familiengeschichte. Wie stark die Kriegsnachwirkungen aber sein können, habe ich im letzten Jahr in einer Gruppe erlebt, in der es um dieses Thema ging. Ich selbst war darin die Älteste. Ganz junge Menschen waren da, die von der Sprachlosigkeit ihrer Eltern und Großeltern erzählt haben, weil das Kriegsthema für sie noch immer so schwierig war und ist.

 

Zu der Sprachlosigkeit der ehemaligen Kriegskinder, und zu den ausgeblendeten betroffenen Kindern heute möchte ich eine Kontrastgeschichte stellen. Jesus wird da von seinen Freunden gefragt – "Wer wird denn der Größte im Königtum der Himmel" – Und Jesus ruft ein Kind herbei, stellt es in die Mitte und sagt: "Wahr ist's, ich sage euch: Wenn ihr euch nicht umwendet und wie die Kinder werdet, kommt ihr nimmermehr ins Königtum der Himmel".

 

Das ist eine facettenreiche kleine Erzählung. Eine Facette daraus mag sein, dass es gut ist, sich umzuwenden, sich zu erinnern, manchmal innerlich wieder zum Kind zu werden.

 

Das macht es leichter möglich, die Kinder, die heute betroffen sind, ganz real in die Mitte zu nehmen. Denn sie sind es, die vielleicht etwas menschlicher auf dieser Erde weiterleben könnten. Ich sage ganz bewusst – auf der Erde weiterleben – auch wenn in der biblischen Erzählung vom Königtum der Himmel die Rede ist. So ganz jenseitig hat sich das der Evangelist, der das erzählt hat, womöglich gar nicht vorgestellt "Königtum der Himmel" hat nichts mit Macht und Herrschaft zu tun, sondern mit königlicher Würde, jetzt und dann, im Leben und über das Leben hinaus. Und das für die Kleinen, die Kinder oder für die, die das Kind in sich nicht vergessen haben.