Das Evangelische Wort

Sonntag, 13. 01. 2002,  6.55 Uhr - 7.00 Uhr,

 

 

 

von Mag. Gisela Ebmer

 

"Petrus sprach zu dem gelähmten Mann, der beim Tempel bettelte: Sieh uns an. Silber und Gold habe ich nicht, was ich aber habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi von Nazareth steh auf und geh umher!"

 

Jeden Tag, wenn ich von der Schule heimfahre, durchquere ich den Wiener Westbahnhof. Und fast immer werde ich von irgendeinem Bettler angesprochen. "Haben Sie vielleicht ein paar Schilling für mich?" – 17-18jährige Jugendliche. Sie leben am Bahnhof. Die paar Schillinge brauchen sie wohl, um Drogen zu kaufen. Deshalb gehe ich meistens stumm an ihnen vorbei, schaue weg, auch wenn sie mir leid tun. Aber ich will einfach keinen Drogenkonsum unterstützen. Ein anderer ist schlauer: "Schaun Sie, ich hab da 100 Schilling und brauch noch genau 40 - für die Heimfahrt mit dem Zug. Können Sie mir helfen?" Zu dem sag ich meistens, "Ja, gehen wir zum Schalter, ich kaufe Ihnen eine Fahrkarte." Und plötzlich ist er verschwunden. So jemand ärgert mich. Warum lügt er mich an? Solche Leute mag ich nicht.

 

Ich muss ehrlich sein. Ich tu mir schwer mit Bettlern. Obwohl ich engagierte Christin bin und eigentlich helfen möchte, wenn es Menschen schlecht geht. Erst letzte Woche waren im Radio Berichte über die Obdachlosen in unserem Land zu hören. 20.000 sind es, die keine Wohnung haben. 2.000 leben tatsächlich auf der Straße. Und das ist bei der Kälte im heurigen Winter besonders schlimm. Bahnhöfe und U-Bahnen werden in der Nacht zugesperrt. Aus Eisenbahnwaggons werden sie hinausgetreten, in Fußgängerpassagen gibt es keine Bänke, damit sich dort die Sandler nicht breit machen. Denn sie sind schlecht für das Image der Stadt. Die Sitzbänke in den U-Bahnstationen haben sich auch verändert. Es sind keine Bänke mehr. Es sind Einzelsessel, miteinander verbunden, so, dass es unmöglich ist, sich darauf hinzulegen. Obdachlose werden zunehmend vertrieben aus der Öffentlichkeit, die doch eigentlich für alle da ist.

 

Vor 2000 Jahren, in Palästina, im 1.Jahrhundert nach Christus, da war’s wenigstens noch offiziell erlaubt zu betteln. Da hat man einen lahmen Mann täglich zum Tempel getragen, damit er dort um Almosen bitten kann. Und ich glaube, Petrus war damals in einer ähnlichen Situation wie ich, mit dem Unterschied, dass er wahrscheinlich wirklich kein Geld hatte. Aber er hat sich wohl auch überlegt, wie man einem solchen Bettler eigentlich helfen kann. Was nützen ihm Gold und Silber? Was nützen heute einem drogensüchtigen Jugendlichen ein paar Schilling? Brauchen diese armen Leute nicht eigentlich ganz was anderes? Einen Halt in ihrem Leben, ein Ziel, für das es sich zu leben lohnt? Einen Menschen, der ihnen endlich einmal wirklich zuhört, bei dem sie sich ausweinen können über all das Traurige, was sie erlebt haben.

 

Sieh uns an, hat Petrus zu dem lahmen Mann gesagt. Wie wär das, wenn ich zu so einem Bettler einfach mal sagen würde: Schau mich an. – Ich kann‘s nicht, ich trau mich nicht, ich hab keine Zeit, keine Energie um mich auf ein Gespräch einzulassen. Ich wäre überfordert damit, so gestrandete Leute wirklich zu begleiten. Aber ich weiß, es gibt heute Menschen, die das können. Es gibt Projekte und Initiativen mit sozial und psychologisch geschulten Leuten, die sich um Obdachlose kümmern und sie nicht einfach mit Geld abspeisen. Da gibt es Weihnachtsfeste für sie an mehreren Orten Wiens, da gibt es Plätze, wo sie nicht nur was zu essen kriegen, sondern wo sie miteinander reden können, wo Sozialarbeiter für Gespräche und Hilfe zur Verfügung stehen. Und da gibt es den Augustin, die Zeitung, die von Obdachlosen selber geschrieben, redigiert, gedruckt und verkauft wird. Wenn ich einem Obdachlosen einen Augustin abkaufe, dann gebe ich ihm eigentlich viel mehr als die zwei Euro, die die Zeitung kostet. Ich sage ihm damit indirekt: Dein Leben hat einen Sinn, du bist wichtig, ich interessiere mich für deine Lebenswelt, für Deine Wünsche, Ängste und Träume. Du wirst gebraucht, ich nehme dich ernst, du kannst was schaffen. Obdachlose lernen durch solche Projekte wieder auf ihren eigenen Füßen zu stehen, und ich hoffe, dass diese Initiativen mehr werden und auch der Staat Geld dafür aufbringt. Auf eigenen Füßen stehen, das ist ein bisschen so, wie damals Petrus zu dem lahmen Mann gesagt hat: Steh auf und geh umher.